Mann ist traurig und beschämt

Diabetes, einmal in das Leben eines Menschen getreten, begleitet diesen ein Leben lang. Durch eine chronische Krankheit verändert sich das Selbstbild eines Menschen. Neben vielen unterschiedlichen Gefühlen tritt auch Scham auf. Sie ist ein verstecktes und tief im inneren verborgenes Gefühl, das für die Betroffenen schwer auszuhalten ist und vielfach nicht richtig eingeordnet werden kann.

Herr P. G. weiss seit kurzer Zeit, dass er zu hohe Zuckerwerte hat. «Diabetes» hat der Arzt gesagt. Seine Wunde, die nicht zuheilt, zwingt ihn, die vorgeschlagene Therapie durchzuführen und die Ernährungsempfehlungen einzuhalten. Bilder aus seiner Kindheit tauchen auf: Seine diabetische Mutter isst bei einem Familienfest das grosse Stück Torte und sein Cousin meint abschätzig, dass die sich nicht wundern müsse zuckerkrank zu sein. Er möchte heute noch in den Boden versinken vor Scham, dass seine Mutter der Versuchung nicht widerstehen konnte und diese Torte gegessen hat und dass sein Cousin sie deshalb in aller Öffentlichkeit beschämt hat. Und nun hat er selber die Diagnose Dia­betes. Herr P. G. errötet beim Gedanken daran. Er schämt sich.

Die natürliche Scham
Scham ist ein Gefühl, das auftreten kann, wenn Menschen sich oder Aspekte von sich zeigen. Es ist also ein soziales Gefühl. Im Schamgefühl ist immer der Wunsch enthalten, etwas von sich zu verbergen, zuzudecken oder unsichtbar zu machen.
Es gibt die natürliche Scham. Sie schützt den inneren, intimen Raum, den jeder Mensch in sich trägt. Dieser umfasst den Körperraum und ist identisch mit der Körperoberfläche. Er ist das Eigenste, was der Mensch hat. Aber der intime Raum ist nicht nur ein körperlicher Raum, sondern auch ein emotionaler und geistiger Raum. Im intimen Raum ist alles, was für einen Menschen existentiell schützenswert gilt. Wer in diesen intimen Raum eintreten darf, wollen die Menschen selber bestimmen. Das Gefühl, das die Menschen darauf hinweist, ist die Scham.
Die Scham ist also die Wächterin des intimen Raums. Wo genau die Grenzen sind, ist individuell verschieden und verändert sich je nach Lebenserfahrung und Lebensumstände.
Die Scham kann schützendes Verhalten provozieren, denn nicht alle dürfen in diesen Raum eintreten. Es sind dabei immer zwei sich widersprechende Gefühle betroffen; einerseits sehnen sich Menschen danach, dass die Grenzen zum inneren Raum durchlässig sind, andererseits fürchten sie sich, dass dieser verletzt wird.

Folgende Beispiele stehen für eine natürliche Scham:
Der Jugendliche, der sich verliebt hat und von seiner Mutter gefragt wird, ob das Rumknutschen Spass macht. Er wird rot und flüchtet in sein Zimmer.
Eine Frau sitzt im Zug und ihr tropft die Nase. Sie findet das nötige Taschentuch nicht. Die anderen Menschen im Abteil beobachten sie. Die Frau schämt sich.
Bei einem Vortrag verspricht sich der Redner und bringt nur noch einen zusammenhanglosen Satz hervor. Es ist ihm äusserst peinlich, und er findet nur mit grösster Mühe wieder in den Redefluss.

Wenn die natürliche Scham verletzt wird
Es ist entscheidend, dass die Scham ihre Funktion als Wächterin des intimen Raums wahrnehmen kann. Viel zu oft werden Grenzen überschritten und Menschen haben nicht mehr die Wahl, ob sie jemanden oder etwas an sich heranlassen oder in sich hereinlassen möchten. Hier kann die Scham ihre natürliche Aufgabe nicht mehr erfüllen. Gewaltanwendungen zerstören den inneren Raum und können bei den Betroffenen leider eine kaum auszuhaltende Scham auslösen.
Doch viel subtiler und leider oft genug auftretend ist die Beschämung. Andere Menschen, aus welchem Grund auch immer, stellen jemanden bloss: «Deine Mutter hat das auch nicht auf die Reihe bekommen, ist ja klar, dass Du das auch nicht kannst», könnte ein Gefühl der Beschämung bei Herrn P. G. auslösen. Oder Menschen wurden als Kinder ausgelacht, weil sie nicht schlank waren und im Turnunterricht immer zu den langsamsten gehörten. Oder die Eltern, die den Kindern nicht zutrauten auf ihre eigenen Gefühle zu hören, und sie immer wieder mit der Bemerkung eindeckten, dass sie sowieso zu nichts fähig seien. Beispiele gibt es leider genug.
Werden Menschen dauernd beschämt, kommt es leider oft zu einer Abwertung der ganzen Persönlichkeit. So wird die Scham mit der Zeit ein selbstverständlicher Teil der Person.

Scham bei chronischen Krankheiten
Wie im einführenden Beispiel dargestellt kann eine chronische Krankheit wie Diabetes Scham hervorrufen. Je nach Erfahrung und Lebensumstände eines Menschen wird dies mehr oder weniger intensiv erlebt. Jede chronische Erkrankung ruft Veränderungen hervor. Der innere Raum wird verschoben. Auf einmal nehmen Menschen an diesem Raum teil, treten ein, müssen eingelassen werden. Für betreuende Personen ist das vielfach nicht ersichtlich. Sie geben ja Unterstützung und empfinden keineswegs, dass sich ein Patient für den Diabetes schämen muss oder soll. Vielleicht ist es für den Patienten in diesem Moment auch nicht beschämend, schliesslich geht es um seine Krankheit, also einen genau definierten Raum. Es geht hier nicht um ihn als ganze Person. Er kann sich immer noch in seinen inneren Raum zurückziehen. Irgendwann kann es sein, dass Menschen, seien es Medizinalpersonen oder Familienangehörige, in seinem Innersten herumstöbern. Dann können Bemerkungen wie folgt kommen: «Wie hoch ist denn Dein Zucker? Bekommst Du das denn gar nicht in den Griff? Du musst halt anders essen und anders spritzen und anders leben.» Dies kann dazu führen, dass Menschen überhaupt nicht mehr über ihre Krankheit sprechen. Sie merken, dass sie krank und verletzt sind, und sie schämen sich dafür.
Wenn Diabetes nun in den familiären, privaten Rahmen getragen wird – und das wird er automatisch – kann es zu verschiedenen Schamgefühlen kommen. Der Diabetiker kann sich schämen, weil er meint, nicht mehr gut genug zu sein, den anderen zur Last zu fallen («Ich will doch keine Zumutung sein»). Vielleicht holt ihn seine Geschichte ein als er sich für jemand anderes geschämt hat oder er beschämt wurde. Es kann aber auch sein, dass er sich seiner eigenen Scham schämt. Oder wird er sogar schamlos, spürt seine eigene Scham nicht mehr?

Auswege aus der Scham
Die Scham ist ein tief im Verborgenen liegendes Gefühl. Sie umfasst immer den ganzen Menschen, seine ganze Persönlichkeit. Es ist deshalb sehr schwierig, an sie heranzukommen. Viele wollen sie überhaupt nicht anschauen, da es zu unangenehm und peinlich ist
Vielfach wird sie dann einfach ersetzt durch andere Gefühle wie Wut, Aggression, Gefühllosigkeit, Sehnsucht und vieles mehr.
Der einzige Ausweg aus der Scham ist, sie anzuschauen, durch sie hindurch zu gehen. Dies verlangt bedingungslose Ehrlichkeit sich selber gegenüber. Je mehr die Scham an die Oberfläche geholt wird, desto mehr verschwindet sie. Es ist sehr heilsam für Menschen mit Scham zu spüren, woher ihre Scham kommt. Sind innere Räume verletzt worden? Von wem? Wieso? Fanden Beschämungen statt? Was ist die eigene Geschichte, was kommt von Aussen? Meistens hilft hier auch eine einfühlsame, professio­nelle Betreuung, in der sich ein Mensch aufgehoben fühlt und sich seiner Scham in einem geschützten Rahmen nähern kann.
Scham kann und soll nicht ganz zum Verschwinden gebracht werden, denn eine gesunde Scham hat auch etwas Schönes. Das leichte Erröten, wenn jemand etwas von seinem Innern Preis gibt, ist durchaus charmant und wird von der Umgebung immer mit viel Wohlwollen und Sympathie aufgenommen.

In eigener Sache

Dieser Text ist für Menschen mit Diabetes und deren Angehörige und Begleiter geschrieben. Möge er die Leserinnen und Leser ermuntern, sich Gedanken zur eigenen Scham zu machen, sie zu spüren, aber sie auch bei den Mitmenschen zu erahnen. «Worüber schäme ich mich? Beschäme ich jemanden mit meinem Verhalten, mit meinen Fragen?»
Das Thema Scham anzugehen, einen Artikel darüber zu schreiben, war nicht einfach. So, als würde sich die Scham schämen, das Hauptthema eines Artikel zu sein. Sie möchte lieber in den Hintergrund treten. Je mehr ich mich diesem Thema näherte, desto stärker fühlte ich die Verletzlichkeit der Scham, wie ein unschuldiges Kind, naiv und unverdorben. Und um so mehr spürte ich auch, wie wichtig es ist, die Grenzen, die die Scham setzt, anzuerkennen. Dies ist gerade in der heutigen Zeit wichtig, wo alles möglich ist und vieles schamlos zur Schau gestellt wird. Scham führt zurück in die Intimität und persönliche Verletzlichkeit Und die Scham wird zum Charme.

AutorIn: Andrea Merkel-Hoek, eidg. dipl. Apothekerin ETH/ MPH