Es ereignete sich an einem verregneten Dienstagabend im Juli vergangenen Jahres. Ein Tourist aus den USA wollte mit seinem Mietwagen die Stadt Luzern erkunden. Die Navigation für die Stadtrundfahrt hatte er dem GPS-Gerät überlassen, das ihn vom Schwanenplatz auf kürzestem Weg zur Baslerstrasse führen sollte. Das Computerprogramm des Navis wählte den Weg quer durch die Altstadt. Als die Strasse plötzlich ausgesprochen holprig wurde, beendete der Amerikaner seine Fahrt. Bei genauem Blick durch die verregnete Scheibe zeigte sich die Ursache des Holperns: Das Auto befand sich auf der Rathaustreppe … Der Mann hatte sich blindlings auf sein Navi verlassen und nicht auf die Hinweisschilder und Fahrverbote geachtet. Oder etwas zugespitzt: Natürliche Dummheit und künstliche Intelligenz hatten schlecht harmoniert. Zur Bergung des Autos musste ein Kran aufgeboten werden, die Schäden an Treppe und Auto hielten sich glücklicherweise in Grenzen. Wie der Tourist den Rest der Ferien verbracht hat, und ob er aus dem Abenteuer etwas gelernt hat, ist leider nicht dokumentiert.
Während ich diese Zeilen niederschreibe, warnt mich mein frisch gesetzter Sensor vor einem stark abfallenden Blutzuckerspiegel und einem Wert von 4 mmol. Das überrascht mich einigermassen, habe ich doch erst gerade etwas gegessen. Die 2-malige Kontrolle mit der traditionellen Methode per Stich in den Finger zeigt einen gut doppelt so hohen Wert und bestätigt meine Skepsis. Ich kann also getrost weiterschreiben und eine Geschichte schildern, die mir kürzlich aus einem Diabetes-Kinderlager zugetragen wurde. Auf einer Wanderung habe ein Kind seinen Sensor-Blutzuckerwert kontrollieren wollen und deshalb sein Smartphone gesucht. Hosentasche? Jacke? Rucksack? Fehlanzeige! Also sei man auf die Weide zurückgekehrt, auf der die Gruppe zuvor Rast gemacht hatte. Und tatsächlich – dort lag es unversehrt und konnte während der Fortsetzung der Wanderung wieder zuverlässig die BZ-Werte protokollieren. Beim nächsten Ausflug, so wurde mir berichtet, sei das Handy bereits im Lagerhaus liegen geblieben. Dort war es wenigstens vor weidenden Kühen sicher.
Inzwischen warnt mich mein Sensor bzw. mein iPhone eindringlich vor einem niedrigen BZ-Wert von 2,1 mmol, bei fallender Tendenz. Die anschliessenden Messungen an der Fingerbeere zeigen 9,1 bzw. 8,9 mmol und strafen die Sensormessung Lügen. Die Technik warnt mich – um auf die GPS-Irrfahrt von Luzern zurückzukommen – fälschlicherweise vor einersteil abfallenden Treppe, obwohl ich auf einer flachen Autobahn fahre. Welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen? Mir wird einmal mehr klar, dass ich mich nur bedingt auf die (in der Regel zuverlässigen) Messungen verlassen darf und mir immer wieder kritische Fragen stellen muss. Stimmen die angezeigten Ergebnisse mit meinem Körpergefühl überein? Soll ich tatsächlich eilends ein Hypo bekämpfen, das ich nicht spüre? Soll ich ein anderes Mal einen angeblich hohen Blutzucker herunterspritzen, den ich mir nicht erklären kann? Je mehr wir durch Technik wie Insulinpumpe, Blutzuckersensor oder Loop-System unterstützt werden, desto wichtiger werden Skepsis, gesunder Menschenverstand und zusätzliche Sicherheits-Messungen. Was nützt mir die Diabetes-App auf dem Handy, wenn das Gerät auf einer Weide liegen bleibt oder der Akku leer ist? Habe ich ein Reservesystem bei mir, oder kann ich mich nötigenfalls für ein paar Stunden auf meine Körperwahrnehmung verlassen? Wie kann ich die Insulinpumpe ersetzen, wenn sie auf einer Auslandreise defekt ist? Bei der Strassennavigation per GPS ist die Alternative einfach: Ein Blick auf die Karte oder die Strassenschilder reicht. Beim Diabetes-Management ist es leider komplizierter.
Übrigens: Nach mehreren Stunden Fehlinformationen habe ich den zweifelhaften Sensor ersetzt. Jetzt erhalte ich wieder plausible Meldungen. Vorläufig …