Darmbakterien

Seit einiger Zeit liest man in den Medien immer wieder Artikel über die sogenannte Darmflora. Dabei wird betont, wie wichtig diese für einen gesunden Körper sei, gleichzeitig wird aber auch darauf hingewiesen, dass die Darmflora Krankheiten auslösen oder sogar für die Behandlungen gewisser Krankheiten genutzt werden könne. So ist reichlich Verwirrung entstanden, es sind aber auch grosse, zum Teil übertriebene Erwartungen geweckt worden. – Was ist die Darmflora? Was hat es damit auf sich? Der folgende Artikel geht darauf ein.

Was ist die Darmflora?
Unser Körper ist von Millionen Bakterien, Viren und anderen sogenannten Mikroorganismen besiedelt, und zwar auf der Haut, im Darm, im Mund, im Nasenrachenraum und an anderen Stellen. Die Gesamtheit aller Mikroben, die sich in und auf unserem Körper befinden, nennt man «Mikrobiom». Gesamthaft tragen wir zirka neunmal mehr Zellen von solchen Mikroben als menschliche Zellen mit uns herum. Das Gesamtgewicht des Mikrobioms des einzelnen Menschen wird auf mehrere Kilogramm geschätzt. Ein grosser Teil davon befindet sich im Darm und wird als «Darmmikrobiom» oder «Darmflora» bezeichnet.
Bis in die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts war über die Funktion unserer Darmflora wenig Detailliertes bekannt. In der Zwischenzeit wissen wir, dass sie auf viele Arten mit unseren eigenen körperlichen Steuersystemen und Organen, aber auch mit der Umwelt, in der wir leben, vernetzt ist. Viele unserer heutigen Erkenntnisse stammen von Tierstudien ab, die entsprechend nur beschränkt auf die menschliche Situation übertragen werden können.

Darmflora und Gesundheit
Ungefähr 50 % der Darmflora sind bei allen Menschen etwa gleich und für die wichtigsten Stoffwechselfunktionen wie den Abbau von Zuckern im Darm und die Produktion von Fettsäuren, Aminosäuren und Vitaminen von enormer Bedeutung.
Die Zusammensetzung der restlichen 50 Prozent des Darmmikrobioms ist von verschiedenen Faktoren abhängig: Sei es von der Geburtsart (Kaiserschnitt oder vaginale Entbindung), der aktuellen und/oder früheren Ernährung, von durchgemachten Infekten und Antibiotikatherapien oder von erlebtem Stress. So stimmt zum Beispiel die Darmflora von vaginal zur Welt gekommenen Babys mit der Keimbesiedelung der mütterlichen Scheide überein, während durch Kaiserschnitt geborene Babys die Hautflora der Mutter in den Darm übernehmen. Mit Muttermilch gestillte Babys behalten wahrscheinlich bis ins Erwachsenenalter eine andere Darmflora als mit der Flasche gefütterte Babys.
Wichtig ist: Die Darmflora, die in der Frühkindheit herangebildet wird, scheint einen wichtigen Einfluss auf die spätere Gesundheit und Entwicklung zu haben. An der Brust gestillte Babys leiden später mutmasslich weniger häufig an Allergien, Asthma und Dia­betes als durch Kaiserschnitt geborene Personen. Im Laufe des Lebens kommt es zu wesentlichen Veränderungen des Darmmikrobioms: Die Darmflora alter Leute unterscheidet sich von derjenigen der jüngeren Menschen. Die Zusammensetzung der Darmflora älterer Menschen widerspiegelt den Gesundheitszustand respektive die Krankheitsanfälligkeit, wie einige Untersuchungen gezeigt haben.

Der Einfluss von Nahrung auf die Darmflora
Ernährung und Nahrungsauswahl spielen eine wichtige Rolle in der Zusammensetzung der Darmflora, und zwar vom Neugeborenen bis ins hohe Alter. Die Wechselwirkungen zwischen Ernährung, Darmflora und unserem Körper respektive dessen Gesundheit sind sehr komplex und bis heute nur ansatzweise bekannt. Veränderungen der Kost führen bereits nach wenigen Tagen zu einer veränderten Darmflora.
Die Verarbeitung und Verdauung von Nahrung erfolgt primär im oberen Magen-Darm-Trakt. Hier wird als erstes die Nahrung gespalten, und die wichtigen Bestandteile in den Blutkreislauf aufgenommen. Viele, vor allem pflanzliche Nahrungsbestandteile, werden jedoch im oberen Verdauungstrakt nicht vollständig verdaut und gelangen in die mit Darmflora besiedelten unteren Darmabschnitte. Je nach Darmflora und aufgenommener Nahrung entstehen unterschiedliche und unterschiedlich viele Nahrungsbestandteile, die sowohl für die Darmfunktion selbst als auch für den gesamten Körper wichtig sind. Der Schutz vor Krankheiten oder gerade das Ausbrechen von gewissen Krankheiten kann je nachdem durch solche Verdauungsprodukte gefördert werden (siehe Kasten).

Beispiel Butyrat

Die Fettsäure Butyrat wird im Darm aus pflanzlichen Fasern, Stärke und Kohlenhydraten/Zuckern gebildet. Butyrat ist wichtig für die Darmzellen selber (zum Beispiel Wanddurchlässigkeit, Peristaltik), hat aber auch eine grosse Anzahl weiterer Wirkungen, wie zum Beispiel Hemmung von Enzymen, Unterdrückung von Krebs und Funktion des Immunsystems. So kann man sich gut vorstellen, dass Butyrat zur Verhinderung von Krankheiten und als Heilmittel zur Behandlung von verschiedenen Erkrankungen wie Krebs, metabolischem Syndrom, Diabetes, Herz-Kreislauf- und Immunerkrankungen sowie neurologischen Erkrankungen eingesetzt werden könnte.
Die regelmässige Einnahme von Früchten und Gemüse fördert nicht nur die direkte Bildung von Fettsäuren wie Butyrat, sondern auch die Besiedelung des Darmes mit Bakterien, die diese Fettsäure produzieren können. Das trifft insbesondere für die Bakterienfamilie der Firmicutes zu.
Bedeutend ist zudem, dass tierfett-, tiereiweiss- und zuckerreiche «westliche» Kost eine andere Zusammensetzung der Darmflora bewirkt (vermehrt Bakterien der Familie des Bacteroides), was eine deutlich tiefere Produktion von Butyrat zur Folge hat.

Tabelle DarmfloraDarmflora und Krankheiten
Verschiedene Untersuchungen berichten, dass bei Übergewicht, metabolischem Syndrom, Diabetes, chronischen Leber- und entzündlichen Darmerkrankungen, Reizdarm und psychiatrischen Beschwerden (Angst, Stress, Depression) die Darmflora anders zusammengesetzt ist als bei gesunden, schlanken Menschen (siehe Tabelle). Nicht ganz klar ist aber, ob diese Unterschiede in der Darmflora Ursache oder Folge der erwähnten Krankheiten sind. Tierstudien haben aber immerhin nachgewiesen, dass die Übertragung der Darmflora kranker Tiere in den Darm gesunder Tiere bei letzteren zum Ausbruch der gleichen Krankheiten geführt hat.

Darmflora, Prä-, Pro- und Antibiotika und Medikamente
Die Überlegung ist naheliegend, dass durch Veränderungen der Darmflora Krankheiten verhindert oder geheilt werden könnten. Denkbar wäre dies durch gezielten Einsatz von Anti-, Pro- oder Präbiotika (Probiotika sind zum Beispiel lebende Bakterien, die als Heilmittel eingesetzt werden. Präbiotika sind Nahrungsbestandteile, die gezielt das Wachstum oder die Aktivität bestimmter gutartiger oder günstiger Bakterien fördern). Konkrete Beispiele wären allergische Hautreaktionen bei Kindern (sogenannte atopische Dermatitis) oder auch Formen von entzündlichen Darmerkrankungen (Colitis ulcerosa) oder von Reizdarm, für die bereits Studienergebnisse vorliegen. Da die Darmflora wesentlich am Abbau von vielen Medikamenten mitbeteiligt ist (Paracetamol) muss auch dieser Aspekt künftig vertieft erforscht werden. Erwartungsgemäss haben Antibiotika sehr wesentliche und zum Teil dauerhafte Effekte auf die Darmflora. Auch hier ist noch viel Forschungsarbeit zu leisten.

Zusammenfassung
Die Darmflora ist an vielen Körperfunktionen zentral beteiligt. Darmbakterien und wahrscheinlich auch andere Mikroben sind wichtig für den Stoffwechsel von Nahrungsmitteln und die Erhaltung der Funktionen des Körpers bei Gesundheit. Eine abnormale Darmflora ist wahrscheinlich bei vielen Erkrankungen mitbeteiligt, was auch wiederum neue Wege für Therapien ermöglichen könnte.

Buch: Darm mit Charme

Buch Darm Mit CharmeAlles über ein unterschätztes Organ
Von Giulia Enders, Sachbuch, Broschur, 288 Seiten mit Illustrationen von Jill Enders. Ullstein Verlag GmbH 2014. ISBN 978-3-550-08041-8. Im Buchhandel erhältlich.
Die junge Wissenschaftlerin Giulia Enders erklärt spannend und unterhaltsam, was wir mit dem Darm für ein hochkomplexes und wunderbares, nur leider vernachlässigtes Organ haben. Der Darm ist der Schlüssel zu Körper und Geist. Er ist ein fabelhaftes Wesen voller Sensibilität, Verantwortung und Leistungsbereitschaft – und er ist der wichtigste Berater unseres Gehirns!

AutorIn: Dr. med. Clive Wilder-Smith, Facharzt für Gastroenterologie / Allgemeine Innere Medizin, Bern