Häufig zeigen sich Essstörungen erstmals im Jugendalter, ob mit oder ohne Diabetes. Doch diabetische Jugendliche sind möglicherweise eher gefährdet. Unter anderem, weil sich bei ihnen vieles um Ernährung und Kalorien dreht und sie wissen, wie Insulin das Körpergewicht beeinflussen kann.

 

Essstörungen sind komplexe psychologische Situationen, die durch eine Störung des Essverhaltens, einen ungesunden Gewichtsverlust oder eine erhöhte Sorge um Themen wie Körpergewicht oder Körperform gekennzeichnet werden. Oft treten sie im Adoleszentenalter erstmals auf, sind verbunden mit psychologischem Stress und später mit anderen Gesundheitsproblemen (wie zum Beispiel Knochenarmut, Osteoporose oder Herzkrankheiten). Bis zu einem Drittel der Betroffenen sind fünf Jahre nach der Erstdiagnose immer noch krank. Man darf nicht vergessen, dass es auch bei Menschen mit milden Anzeichen einer Essstörung mit der Zeit zu einer Verschlechterung kommen kann.

Es gibt grundsätzlich drei Arten von Essstörungen: Anorexie, Bulimie und weitere, nicht näher bezeichnete Essstörungen. Dazu kommen mildere, weniger ausgeprägte Störungen des Essverhaltens.

Statistisch betrachtet neigen Frauen im Allgemeinen eher zur Entwicklung von Essstörungen als Männer. Es besteht ausserdem ein erhöhtes Risiko bei Menschen mit einem hohen BMI (Body Mass Index), mit einer Vorgeschichte von Diätversuchen oder Kalorieneinschränkungen, oder mit einer Unzufriedenheit bezüglich des körperlichen Aussehens.

Das Essen rückt in den Fokus

Zusätzlich zu diesen allgemeinen Beobachtungen zeigt sich bei Menschen mit einem Diabetes Typ 1 aus verschiedenen Gründen ein potenzielles Extrarisiko, ein Essproblem zu entwickeln. Einerseits besteht eine grosse Expertise bezüglich Ernährung. Das Ziel einer guten Diabeteskontrolle ist es ja, rund um die Uhr gute Blutzuckerwerte zu erreichen. Dabei spielt natürlich die Nahrungsaufnahme eine bedeutende Rolle, sodass Jugendliche und ihre Familien schon in den ersten Tagen nach der Erstdiagnose durch wiederholte Ernährungsberatungen zu «Ernährungsprofis» gemacht werden. Sie erhalten sehr viele Informationen über Kohlenhydrate, Fette, Eiweisse, aber auch über Kalorien. Dadurch wird automatisch ihr Ernährungsbewusstsein stark erhöht. Andererseits führt eine Insulintherapie (vor allem am Anfang der Behandlung) potenziell zu einem übermässigen Gewichtsanstieg, mit entsprechender Unzufriedenheit.

Nicht zuletzt ist den meisten Teenagern mit Diabetes bestens bekannt, dass das Auslassen von Mahlzeiten-Insulin, oder ein ungenügendes Spritzen, zu einer Verschlechterung der Blutzuckerwerte und somit auch zu einem Gewichtsabfall führen kann – leider auf Kosten des erstrebenswerten guten HbA1c-Wertes und somit der Diabetes-Langzeitkontrolle!

Der durch Insulinmangel hervorgerufene Gewichtsverlust entsteht aufgrund der sogenannten Nierenschwelle: Die Niere ist von Natur aus so programmiert, dass ein Blutzuckerspiegel bis zirka 10 mmol/l nach der ersten Blutfiltration zurückgewonnen wird und somit im Körper bleibt. Jedes Mal, wenn der Blutzuckerspiegel darüber liegt, sickern Glukoseteilchen in den Urin und werden direkt ausgeschieden, ohne dass sie im Körper verstoffwechselt werden konnten. Leider eine viel einfachere und schnellere Art zur Gewichtskontrolle als eine mühsamere Kalorienreduktion oder -restriktion.

Spannenderweise ist es unklar, ob Essstörungen bei Jugendlichen mit Diabetes Typ 1 wegen der oben erwähnten potenziellen Verstärkungsmechanismen häufiger auftreten als bei nichtdiabetischen Jugendlichen. Die Daten aus der wissenschaftlichen Literatur zeigen keine Einigkeit.

Man kann aber auf jeden Fall sagen, dass Essstörungen bei Adoleszenten mit Diabetes Typ 1 eine grosse Tragweite haben, weil das Risiko von Spätfolgen, somit auch die Lebenserwartung, direkt von der metabolischen Kontrolle abhängig sind. Dieses Risiko ist bei einer Essstörung sogar zusätzlich erhöht.

« Nicht zuletzt beobachte ich immer wieder Jugendliche, die bewusst auf bestimmte Mahlzeiten verzichten, damit weniger Injektionen pro Tag nötig sind. » Dr. med. Paolo  Tonella

 

Essverhalten offen thematisieren

Welche Konsequenzen sollten diese Beobachtungen für die Patientinnen, Patienten, ihre Familien und vor allem für die Kinder-Diabetologinnen und -Diabetologen haben? Im Falle eines schlechten HbA1c-Wertes sollte man immer zusätzlich eine gute Ernährungsanamnese durchführen, da in dieser Altersgruppe Essstörungen häufiger vorkommen. Ausserdem sollte man sich nicht scheuen, das Thema anzusprechen, allenfalls auch grosszügig eine psychologische Betreuung zu verordnen. Und man sollte sich nicht nur um das Technische, die Insulinpumpen, Blutzuckermessgeräte, die Kohlenhydrate und die Compliance kümmern.

Ausserdem ist es wichtig, bei jeder Dreimonatskontrolle auch das Gewicht und die Körpergrösse zu überprüfen. Bei einem schlechten HbA1c-Wert und Gewichtsstillstand oder Gewichtsverlust sollte man besonders aufmerksam werden.

Gleichzeitig sollte man gut darauf achten, dass durch die Insulin-Einstellung so wenig Unterzuckerungen wie möglich verursacht werden. Die dafür oft zwischen den Mahlzeiten nötigen Kohlenhydrate- Portionen können im Verlauf von mehreren Monaten zur zusätzlichen Kalorienbelastung werden.

Andere Gründe für Essensverzicht

Nicht zuletzt beobachte ich immer wieder Jugendliche (insbesondere in den ersten Monaten nach der Diagnosestellung), die unter Mehrfachinjektionen (wie zum Beispiel FIT, Funktionelle Insulintherapie) bewusst auf bestimmte Mahlzeiten verzichten, damit weniger Injektionen pro Tag nötig sind. Auch bei diesem Thema ist es wichtig, darüber zu sprechen und die Gewichtskurve konstant zu überwachen. Diese Situation ist viel weniger schwierig anzugehen als eine klassische Essstörung. Meistens reicht eine gewisse Gewöhnungszeit. Bei hartnäckiger Spritzenangst oder aus anderen Gründen kann man jederzeit auf eine Insulinpumpe umstellen.

Natürlich ist es nicht immer einfach herauszufinden, aus welchem Grund gar nicht oder zu wenig gespritzt wird. Es gibt hierfür auch andere Ursachen, ohne dass eine Gewichtsreduktion das oberste Ziel sein muss: zum Beispiel Mühe, sich in der Öffentlichkeit mit Spritzen oder Messen zu outen, Angst vor Unterzuckerungen in der Schule oder am Arbeitsplatz, verminderte Resilienz, die zu einer schlechten Akzeptanz der Krankheit führen kann, Ablenkung durch Social Media/ Gamen und so weiter. Bei schlecht eingestellten Patientinnen und Patienten, die es mit einem hohen HbA1c-Wert schaffen, trotzdem übermässig an Gewicht zuzulegen, ist die Ursache weniger häufig im Bereich der Essstörung zu suchen.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Essstörungen kommen bei Adoleszenten mit oder ohne Diabetes Typ 1 in ähnlicher Häufigkeit vor. Insbesondere Mädchen mit Diabetes (aber auch Knaben!) mit einer schlechten metabolischen Kontrolle sind dazu sicher gefährdeter. Die Prävention, die regelmässige Kontrolle des Gewichtsverlaufs sowie ein offenes, direktes Ansprechen der Problematik und gegebenenfalls der rasche Beginn einer psychologischen Betreuung spielen eine wichtige Rolle, nicht zuletzt im Hinblick auf Spätfolgen und Lebenserwartung.

AutorIn: Dr. med. Paolo Tonella, FMH pädiatrische Endokrinologie/Diabetologie