Oriane und Eleonor im Sommer 2018

Wie die siebzehnjährige Oriana und die dreizehnjährige Eleonor den Alltag meistern – trotz Diabetes Typ 1. Oriana und Eleonor waren schon immer Optimisten. So stellen sie sich neuen Herausforderungen mutig und voller Zuversicht. Dabei stehen ihnen ihre Eltern mit Rat und Tat zur Seite.

Es ist ein milder Nachmittag Anfang September. Fürs Interview sitzen Oriana, Eleonor und ihre Mutter Claudia auf der Terrasse ihres Hauses in Bernex (Kanton Genf). Die Umgebung ist ländlich. Eine Eidechse, offensichtlich vertraut mit der Umgebung, wärmt sich an der Sonne. Beim Gespräch ergreift Oriana als erste das Wort. Ihre Schwester ist etwas zurückhaltender. Doch dann kommt auch sie aus sich heraus. Denn scheu sind beide Mädchen nicht.
Wie die meisten Schülerinnen und Schüler konnten sie den Beginn der Sommerferien kaum erwarten. «Das Ende der Schulzeit heisst auch, dass man keinen Stress mehr hat», erklärt Oriana. Bei ihr wurde der Diabetes im April 2011 diagnostiziert, nachdem man schon früher eine andere Autoimmunkrankheit, eine Zöliakie (Glutenunverträglichkeit), festgestellt hatte. Eleonor, die seit Juni 2012 an Diabetes erkrankt ist, doppelt nach: «Keine Schule mehr, das war einfach herrlich!» Für sie standen ein Diabetikerlager und im Juli Urlaubstage mit der Familie am Meer in der Toskana bevor. Reiterferien waren für Ende August vorgesehen. Auch Oriana durfte erholsame Tage erwarten, obwohl ein paar Wermutstropfen dabei waren. Natürlich freute sie sich sehr auf die Familienferien in der Toskana. Aber sie hatte auch geplant, mit einem 15tägigen Temporärjob bei der Gemeinde ihr Taschengeld aufzubessern. Und dann war noch die Abschlussarbeit für die Matura, die darauf wartete, in Angriff genommen zu werden.

Diabetes betrifft die ganze Familie
Für Claudia, die Mutter, ist die Situation nicht immer ganz einfach: «Mein Mann und ich sind stets bemüht, die beiden Kinder in ihrem Diabetes zu unterstützen. Aber schon die Vorbereitungen vor Abfahrt in die Ferien sind bei uns immer ziemlich aufreibend. Man muss an Vieles im Voraus denken. Beim Kofferpacken sind alle Zwischenfälle einzuplanen, die bei Diabetesbetroffenen auftreten können. Das nötige Material, rechtzeitig vorbestellt, muss gleich in zwei- und dreifacher Menge mitgenommen werden, inklusive Wechselset für die Insulinkatheter. Auch die Notrationen für Hypos (Süssgetränke, Riegel, Traubenzucker) darf man nicht vergessen, auch wenn nur ein Wochenendurlaub bevorsteht.» Aber auch dieses Mal verliefen die Ferien schluss­endlich ohne grosse Schwierigkeiten. Oriana und Eleonor waren erstmals mit dem FreestyleLibre ausgerüstet, was von den Eltern und den Kindern gleichermassen als deutliche Erleichterung empfunden wurde. «Es war einfach super», erklären beide Mädchen übereinstimmend. «Keine Stecherei mehr in die Finger. Zudem zeigt das Gerät den Trend des Blutzuckerverlaufs an. Beides vereinfacht das Leben mit dem Diabetes extrem. Der einzige Nachteil ist, dass sich der Sensor leicht von der Haut ablöst (vor allem bei Eleonor).»
Der Ausbruch des Diabetes bedeutete für die ganze Familie eine neue, bisher unbekannte Herausforderung. Alles wurde viel komplizierter und mühsamer. In der Verwandtschaft war bisher weit und breit kein Diabetes bekannt. «Klar, es gab Fälle von Allergien und Autoimmunkrankheiten», erläutert Claudia. «Aber der Schock sass tief, als schliesslich bei Oriana und Eleonor der Diabetes festgestellt worden war. Für unsere Kinder ist es eigentlich fast eine doppelte Belastung.»

Oriane und Eleonor im FreizeitparkDie Kinder nehmen den Diabetes noch recht gelassen
«Mit zehn Jahren habe ich während meines Aufenthaltes im Spital überhaupt nicht begriffen, was auf mich zukommt», meint Oriana. «Bereits knapp drei Monate später fuhr ich alleine mit meinem Gotti und meinem Götti in die Ferien, ohne dass es zu Komplikationen mit dem Diabetes gekommen wäre.» Eleonor, die acht Jahre alt war, als der Diabetes ausbrach, empfand es ebenfalls nicht als traumatische Belastung. «Ich war ja nicht auf mich alleine gestellt und machte einfach alles so, wie meine Schwester. Es war ein bisschen wie ein Spiel. Weil meine Eltern und sie bereits mit dem Diabetes vertraut waren, musste ich auch nur eine Woche im Spital bleiben.»
Claudia erklärt dazu: «Bei den beiden war der Dia­betesverlauf völlig unterschiedlich. Oriana verstand es sehr rasch, mit der neuen Situation umzugehen, was bei Eleonor, die ständig mit zu hohen Zuckerwerten konfrontiert war, überhaupt nicht der Fall war. Ihr Körper reagierte weniger gut auf das Insulin. Sie hatte auch grosse Mühe mit ihren Kathetern, deren Schläuche sich ständig verwickelten. Von den Allergien, die auf der Haut entstanden, gar nicht zu sprechen.»

Fünf Tage hoch zu Pferd
Das war auch dieses Jahr während der Sommer­ferien so. Während Oriana einen recht stabilen Insulinbedarf verzeichnen konnte, war es bei Eleonor wiederum viel schwieriger. Dies hinderte sie aber nicht, ihren Aufenthalt im Diabetikerlager restlos zu geniessen. Auch die Reiterferien in der Nähe von Sion waren ein voller Erfolg, obwohl dort keine in Diabetes geschulten Begleitpersonen zur Verfügung standen und sie das einzige Kind mit Diabetes war. «Trotzdem, es verlief problemlos», versichert Eleonor. «Klar, ich war ständig unter Stress wegen möglicher Blutzuckerschwankungen nach oben und unten. Nur einmal habe ich bei einem nächtlichen Ausritt ein massives Hypo erlebt, das ich nur schwer korrigieren konnte.» Obwohl es ihr im Dia­betikerlager sehr gut gefallen hat, geniesst sie es auch, wenn sie auf Kameradinnen und Kameraden trifft, die nicht vom Diabetes betroffen sind. «Ich ­ziehe es vor, möglichst wenig über den Diabetes zu sprechen», unterstreicht sie. «Es ist einfacher, sich über Pferde zu unterhalten als über seine Krankheit.» Oriana ist da gleicher Meinung: «Überhaupt kann man ja selbst auf den Diabetes aufpassen.»

Sportbegeistert
Die beiden Schwestern sind total sportbegeistert und können sich über Stunden im Klettergarten verausgaben. Man müsse nur gut ausgerüstet sein und das Nötigste dabei haben, zum Beispiel eine Banane und etwas Zucker.
Der absolute Traum von Oriana ist das Sporttauchen. «Ich habe gehört, dass man auch unter Wasser trinken kann, um sich Zucker zuzufügen. Also sollte das kein Problem sein.»
Zurzeit sind Pferde Eleonors Passion. Sie hat im Sinn, später auch an Wettkämpfen teilzunehmen. Eine Einschränkung in den sportlichen Aktivitäten ist auch für die Mutter undenkbar. Übereinstimmend mit ihren Töchtern erklärt sie: «Man wird doch wohl nicht auf den Sport verzichten, nur weil es manchmal schwierig ist, mit den Hypos umzugehen. Da muss und darf man von den anderen Sportlern einfach auch Rücksicht erwarten!»

Rückkehr ins Schulleben
Auch die Rückkehr ins Schulleben verlief dieses Jahr ohne grosse Probleme. «Es braucht halt eine gewisse Gewöhnungszeit, das ist alles», äussert sich Eleonor dazu. «Ich hatte während der ganzen ersten Woche immer wieder Hypos. Zweifellos war dies wegen der Umstellung des Tagesablaufs. Dieser ist während der Schulzeit geregelter als während der Ferien, wo man einmal früh und einmal spät aufsteht.»
Oriana ihrerseits bemerkt, dass einzelne Lektionen, wie zum Beispiel Mathematik, viel Konzentra­tion brauchen, vor allem während der Prüfungen. Oft vergisst man dann, dass der Energieverbrauch ähnlich hoch ist wie bei einer Turnstunde. «Da ich seit mehreren Jahren in der gleichen Schule bin, hatte ich keine Probleme mit den Lehrern oder den Mitschülern», fügt sie hinzu. «Das Umfeld hat sich nicht verändert.»
Für Eleonor war die Gewöhnung schwieriger und komplizierter, weil sie viele neue Lehrpersonen hatte. Aber sie relativiert: «Ich hatte zunächst vergessen, darauf hinzuweisen, dass ich Diabetes habe. Das ist deshalb wichtig, weil die Diabetesbetroffenen während der Schulstunde zum Beispiel ein Süssgetränk zu sich nehmen dürfen, wenn es nötig ist. Dies ist den anderen Schülern verboten.» Da hatte es die ältere ­Oriana einfacher. Sie brauchte keine Bewilligung mehr dafür.

Information an die Schule
«Bereits vor dem Schulbeginn hatte Eleonors Schule mit uns Kontakt aufgenommen», erklärt Claudia. «Wir mussten ein Formular über ihren Gesundheitszustand ausfüllen. Dieses wurde an die Lehrer weitergegeben mit Handlungsanweisungen für einen medizinischen Notfall. Auch schauten wir, dass den Kinder ein eigenes Kästli zur Verfügung gestellt wurde, wo sie ihre Diabetesutensilien verstauen konnten.»
Wie reagierten die Schule, die Lehrer und die Kameraden, als sie erfahren hatten, dass Eleonor an Diabetes leidet? «Sehr unterschiedlich», erwidert diese. «Einige Lehrer sind sehr besorgt, andere kümmern sich überhaupt nicht darum. Eigentlich ist es schade, dass die diabetesbetroffenen Schülerinnen und Schüler nicht in der gleichen Klasse eingeteilt sind. Möglich wäre es, denn in der Parallelklasse sitzt ein Mädchen, das auch Diabetes hat. Auch im Skilager im letzten Winter waren wir leider zeitgleich an getrennten Orten untergebracht. – Mit den Klassenkameraden gibt es keine Probleme. Sie stellen die üblichen Fragen, und dann ist es vorbei.»

Das Morgen ist später
Beide Kinder haben noch keine klaren Zukunftspläne. Einen Beruf im Gesundheitswesen etwa, aber nicht unbedingt Medizin. Oriana könnte sich auch ein Kunstgeschichtsstudium vorstellen. In Ihrer Maturitätsarbeit thematisiert sie die mexikanischen Totenmasken. «Der Tod fasziniert mich … und zwar die fröhliche Seite», erklärt sie locker, ohne an diesem scheinbaren Gegensatz nur den geringsten Anstoss zu nehmen. Vielleicht hat sie diese Einstellung von ihrer Mutter geerbt, die aus Guatemala, nicht weit weg von der mexikanischen Grenze, stammt.
Gewiss, mit 17 und 13 Jahren ist die Zukunft noch in vielerlei Hinsicht unklar. Claudia macht sich aber jetzt schon Gedanken, ob und mit welchen Hindernissen ihre Töchter dannzumal konfrontiert sein könnten. «Abgesehen davon, welche Berufe ihnen einst verwehrt sein werden, frage ich mich oft, wie die Arbeitswelt sie dann empfangen wird», sagt sie beunruhigt. «Man denke da zum Beispiel nur an die Bedingungen für einen Führerschein. Schon bevor man ihn überhaupt erhält, muss man nachweisen, dass die Blutzuckerwerte stabil sind, zwischen fünf und acht. Und dann muss man vor jeder Autofahrt den Zuckerwert kontrollieren. Das ist besonders störend, wenn man bedenkt, dass andere sich mit Alkohol im Blut oder mit Medikamenten ans Steuer setzen!»
Sicher ist: Oriana und Eleonor halten zusammen. In der Obhut ihrer Familie dürfen sie mit festem Willen und ohne gleich den Kopf zu verlieren durchs Leben gehen.

Pierre Meyer, Chefredaktor «d-journal romand», Ausgabe 4/2018

Text übersetzt und fürs Deutsche bearbeitet von Dr. Alexander Spillmann