Für alle Kinder ist es ein besonderes Abenteuer, für Kinder mit Diabetes Typ 1 erst recht: Zum ersten Mal geht Marco (11) ins Klassenlager. Wir zeigen, was es braucht, damit der Lageralltag für alle Beteiligten gut klappt.
Zugegeben, es ist ein etwas mulmiges Gefühl, das Eltern eines Typ-1-Kindes beschleicht: Ihr Kind geht zum ersten Mal allein ins Klassenlager. Das Kind wird den Diabetes im Lager zu grossen Teilen selbständig meistern müssen.
Das kann im Voraus zu vielen Ängsten und Bedenken führen. Eltern haben Angst, ihr Kind gehen zu lassen, Schulen melden Bedenken wegen der Verantwortung an. Was tun also, damit das Lager für alle Beteiligten – das Kind, die Eltern, die Lagerleitung – zu einem Erfolgserlebnis wird?
Vorbereitung ist das halbe Lager
Matchentscheidend ist eine gründliche Vorbereitung. Es ist sinnvoll, eine anstehende Diabeteskontrolle zu nutzen, um gemeinsam mit dem Diabetologen oder der Diabetologin das Lager vorzubesprechen und zu klären, was das Kind selbständig können muss und wie es während des Lageralltags allenfalls unterstützt wird.
«Ein Kind in der 5./6. Primarklasse sollte in der Lage sein, sich nach Rücksprache mit seinem Diabetologen das Insulin in der richtigen Dosierung zu verabreichen, es sollte die Kohlenhydrate selber abwägen können und Essmengen und Esszeiten einhalten. Auch muss es auf Hypoglykämien adäquat reagieren können», erklärt Prof. Dr. med. Daniel Konrad, Abteilungsleiter Endokrinologie / Diabetologie am Kinderspital Zürich die Voraussetzungen.
Auch mit der Schule sollten Eltern frühzeitig das Gespräch suchen. Ganz wichtig dabei ist: Verantwortungen klären! Die Schule muss wissen, wer grundsätzlich wofür verantwortlich ist (siehe Tabelle «Merkzettel Klassenlager»).
Oft haben Lagerleitungen falsche Vorstellungen davon, wofür sie in Sachen Diabetes überhaupt verantwortlich sind. Es ist ein Unterschied, ob man als Lehrperson nur für ein paar Stunden tagsüber während des Unterrichts für ein Diabeteskind zuständig ist oder rund um die Uhr. Das macht vielen Lehrpersonen Angst. Diese Angst sollten Eltern unbedingt ernst nehmen. Sie müssen die richtige Balance finden, auf der einen Seite Lagerleiter/-innen von eventuell überzogenen Vorstellungen bezüglich ihrer Verantwortung entlasten, auf der anderen Seite die eigenen Ansprüche an die Lagerleitung nicht zu hoch stecken.
Ein Beispiel: Es ist schlicht nicht möglich, Marco während des Lagers jeden Tag ständig ans Blutzuckermessen und Insulin spritzen zu erinnern. Aber hin und wieder einen Blick darauf zu haben, ob er das tatsächlich macht, ihn auch mal darauf ansprechen, ist durchaus zumutbar.
Sind die grundsätzlichen Verantwortungen geklärt, lassen sich mit Hilfe einer Checkliste die Pflichten und Verantwortung im Detail besprechen (siehe «Pflichten und Verantwortung im Einzelnen»).
So lassen sich potentielle Konflikte und Diskussionen oft von vornherein verhindern. Sollte die Schule trotzdem darauf beharren, das Kind nicht mitzunehmen oder nur mit einer Begleitperson, hilft es auch, wenn der Diabetologe oder die Diabetologin das Gespräch mit den Verantwortlichen aufnimmt oder sich eine neutrale Drittperson für ein Gespräch zur Verfügung stellt (Swiss Diabetes Kids vermittelt auf Anfrage gerne solche Personen).
So betreut das Kinderspital Zürich ein Diabeteskind im Lager
Das Kind ruft jeden Morgen nach dem BZ messen seinen zuständigen Diabetologen an. Es bespricht, was auf dem Tagesprogramm steht. Der Arzt oder die Ärztin lässt sich über BZ-Werte des Vortages sowie den aktuellen Wert informieren und legt dann die Insulin-Dosierung fest. Das Kinderspital Zürich gibt auch seine Hotline-Nummer ab, damit die Lehrer bei allfälligen Fragen Rücksprache halten können.
Für Marco wäre es eine Katastrophe, wenn er wegen des Diabetes nicht mitdürfte: Er hat nicht um diese Krankheit gebeten, hat sie wohl schon viele Male verflucht – deswegen auch noch von einer Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden, wäre im Hinblick auf die Akzeptanz seiner Krankheit verheerend.
Manchmal ist es aber nicht die Schule, die davor zurückschreckt, ein Kind mit Diabetes im Lager dabei zu haben. Oft haben besorgte Eltern selber Angst, ihr Kind ins Klassenlager gehen zu lassen.
Prof. Dr. med. Daniel Konrad sagt: «Im Lager lernt das Kind, Eigenverantwortung zu übernehmen. Dadurch wird sein Selbstvertrauen gestärkt. Das ist eine Chance, die unbedingt genutzt werden sollte. Wir haben noch nie negative Erfahrungen gemacht».
Realistische Ziele und Training
Ein Lager ist für ein Kind mit Diabetes Herausforderung und Chance zugleich. Zum ersten Mal muss Marco die Verantwortung vollständig selber übernehmen: Kein Mami, das ständig nachfragt, ob er schon BZ gemessen hat, kein Papi, der ihm nachts Orangensaft ans Bett bringt, wenn der BZ zu tief ist. Das wird Marco im turbulenten Lageralltag einiges abverlangen. Umso stolzer wird er heimkehren, denn er hat erlebt, wie kompetent und selbstbestimmt er schon mit seiner Krankheit umgehen kann, auch wenn nicht immer alles perfekt geklappt hat.
Während des Lagers ist vieles anders: Der Tagesrhythmus, körperliche Aktivitäten, Emotionen. Das wiederum beeinflusst den Blutzucker fast zwangsläufig. Marco soll nicht mit dem Druck, rund um die Uhr perfekte BZ-Werte zu haben, ins Lager reisen müssen. Das oberste Ziel ist klar, Notfälle wie eine Ohnmacht oder eine Stoffwechselentgleisung zu vermeiden.
In der Woche vor dem Lager trainiert Marco daheim. Mit seinen Eltern ist abgemacht, dass er drei Tage lang alles alleine macht und sie ihn an nichts erinnern dürfen. Einzig die Kohlenhydrate berechnen sie noch gemeinsam. Das werden sie auch während des Lagers telefonisch so machen, da Marco sich dafür noch zu unsicher fühlt.
Nun ist Marco fit fürs Lager. Er freut sich, ist aber auch aufgeregt. Etwas nervös ist auch Marcos Lagerleiterin. Zuerst hatte sie einige Bedenken, für Marco rund um die Uhr verantwortlich zu sein. Die gemeinsame Vorbereitung hat sie aber beruhigt. Im Lager sieht sie, dass Marco zuverlässig das Essen abwägt und regelmässig seinen Blutzucker misst. Sie hat nicht mehr das Gefühl, ihn permanent überwachen zu müssen und ist beeindruckt, wie gut er alles meistert. Zeit für eine SMS an die Eltern: «Es läuft alles gut, Marco macht es super!»