Tania beginnt den Aufstieg aufs Matterhorn

Tania Volery, heute 47jährig, hat seit 19 Jahren einen Diabetes mellitus Typ 1. Dieser kann die sportbegeisterte Frau aber nicht davon abhalten, in grossem Stil Wanderungen und Bergtouren zu unternehmen. Deshalb hat sie im Sommer 2016 keine Sekunde gezögert, als sich ihr die Gelegenheit bot, das Matterhorn zu besteigen. – Tania Volery berichtet selbst:

Portrait Tanja Volery

Tania Volery PortraitTanja Volery ist Mutter von zwei 11- und 14-jährigen Knaben. Sie hat ein 80-Prozent-Pensum als Lehrerin für Deutsche Sprache am Gymnasium von Yverdon-les-bains. Ihr Ehemann ist bei der SBB angestellt. Ihren Bericht über die Bergtour aufs Matterhorn hat Tania Volery auf Anregung der Vorsitzenden der waadtländischen Diabetesgesellschaft, Annick Valloton, verfasst.

Ich war schon immer sportlich sehr aktiv. Als ich mit 28 Jahren nach einer schweren Blutzuckerentgleisung frisch mit der Diagnose des Diabetes mellitus Typ 1 konfrontiert wurde, war das zunächst ein schwerer Schlag für mich. Aber als ich verstand, dass man trotz Zuckerkrankheit Schokolade essen (!) und Sport treiben darf, konnte ich die neue Situation schon viel besser akzeptieren. Die Welt war für mich beinahe wieder in Ordnung. Gleichzeitig realisierte ich aber rasch, dass man nicht gegen den Diabetes ankämpfen darf, sondern ihn zu seinem ständigen Begleiter machen muss, mit dem man auf gutem Fuss steht. Sonst wird man von unliebsamen Überraschungen überrumpelt…
Ich habe mich deshalb seit jenen Schicksalstagen im Jahr 1999 intensiv bemüht, mich mit dem Dia­betes zu arrangieren, messe also korrekt mehrmals täglich den Blutzucker, achte auf ausgewogene Ernährung und treibe viel Sport. Aber ich reize es auch aus: Unterdessen bin ich zweifache Mutter, unternehme trotz und mit Diabetes Wettläufe (seit dem 16. Lebensjahr habe ich keinen der jährlichen 10 km-Läufe von Lausanne verpasst!), betrieb fünf Jahre lang Kickboxing, begann mit Klettertouren und nahm zweimal am 31-km-Lauf von Siders nach Zinal teil (2010 und 2013). Der Diabetes war also nie ein Grund für mich, auf die Umsetzung meiner Träume und sportlichen Aktivitäten zu verzichten. Man muss es eben nur wagen… und vor allem die nötigen Vorkehrungen treffen.

Alpine Bergtouren
Vor ungefähr 10 Jahren habe ich eine neue Sportart entdeckt, die sich für mich als Diabetikerin hervorragend eignet, weil es sich um Ausdauersport handelt: Die alpinen Bergtouren.
Das eigentlich Schöne dabei ist, dass man nicht wie bei den Wettläufen alleine gegen Sportkonkurrenten antritt, sondern gemeinsam in einer Gruppe anspruchsvolle Touren unternimmt. So nahm ich jahrelang im Sommer, zwischen Mai und September, an mehrtägigen Märschen teil, die von der Association française Randonnée et Diabète organisiert wurden. Genauso wie alle, die nicht an Diabetes erkrankt sind, ist man auch als Schweizer/-in dieser Gesellschaft herzlich willkommen. Auf vielen solchen Touren konnte ich auch immer wieder die Schönheiten der französischen Bergwelt entdecken und geniessen.
2015 fand keine für mich passende Wanderung statt. Ich musste deshalb etwas anderes suchen. So brach ich mit einem Kollegen auf die neuntägige «Tour du Montblanc» auf. Mit einem zwölf Kilogramm schweren Rucksack marschierten wir –immer in der Höhe bleibend – von Unterkunft zu Unterkunft, ohne je ins Tal abzusteigen. Klar kam es dabei zu Unterzuckerungen. Mit nur 10 bis 30 % des sonst üblichen Insulinbedarfs aus der Insulinpumpe habe ich während der neun Tage nur einen Drittel meiner normalen Insulinmenge verbraucht. Auch nach der Wanderung war mein Insulinbedarf weiterhin deutlich geringer als sonst. Das HbA1c verbesserte sich von Juni bis September von 6,9 auf 6,6 Prozent.
Für Sommer 2016 hatten wir die neuntägige Matterhorntour vorgesehen. Leider erlitt mein Freund zwei Wochen vorher eine Verstauchung, so dass ich mich alleine dazu aufmachen musste.
Alleine zu wandern, mit dem Diabetes als einzigen Begleiter, das bedeutete für mich auch eine neue Lebenserfahrung. Ich war körperlich fit und genoss es, alleine meinen Gedanken nachzuhängen, den Kopf zu durchlüften und neue Kraft zu schöpfen. Alles ohne Ehemann, ohne Kinder, ohne Freunde, ohne Schüler (ich bin Lehrerin) …

Matterhorn Route
Tania Volerys Route aufs Matterhorn.

Chamonix-Zermatt
So nahm ich vom 10. bis 21. Juli alleine die «Haute Route Chamonix-Zermatt» unter die Füsse. Das bedeutete 200 Leistungskilometer, sieben bis neun Stunden und 15 bis 20 Kilometer Fussmarsch jeden Tag, beladen mit einem 15 Kilogramm schweren Rucksack, mindestens 1400 Meter Höhenunterschied nach oben und unten. Trotz allem: Es war einfach grandios!
Sozusagen als Tüpfelchen auf dem «i» stand im Anschluss noch die Besteigung des Matterhornes bevor! Nachdem ich im Jahr vorher, wie erwähnt, rund um den Mont blanc gewandert war und nun von Chamonix nach Zermatt ständig das Matterhorn vor Augen hatte, war dieser Aufstieg dort hinauf nur noch die logische Konsequenz. Gleichzeitig bedeutete das aber auch, eine Höhe von 4 478 Metern über Meer zu erklimmen, was leis­tungsmässig klar eine Nummer grösser war als das, was ich bis anhin gewohnt war.
Am 20. Juli in Zermatt angekommen, waren die Wetterprognosen für die kommenden Tage denkbar schlecht. Es waren stürmische Winde vorausgesagt. Deshalb verschob der Bergführer den geplanten Aufstieg aufs Matterhorn auf den 4. bis 5. August. So weit, so gut.
Weniger gut war allerdings, dass ich eigentlich vom 24. Juli bis 3. August elf Tage Ferien mit den Kindern am Meer in Süditalien gebucht hatte. Ich musste mich also bis am 4. August körperlich fit halten und Ernährungsdisziplin einhalten … was nicht einfach ist, wenn man ständig mit Pizze, ­Pasta, Gelati und anderen italienischen Köstlichkeiten konfrontiert wird.
Es ging. Das Hotel hatte am Buffet ein reiches Angebot an Früchten und Gemüsen … und ausserdem war das Angebot an sportlichen Möglichkeiten schier unbegrenzt: Aquagym im Meer und im Schwimmbad, Tanzkurse, Pilates, Jogging im Küs­tensand und vieles mehr.

Aufstieg aufs Matterhorn
Bestes Wetter und beste Wetteraussichten bei meiner Rückkehr in die Schweiz: Der Aufstieg aufs Matterhorn am 4./5. August schien möglich.
Ich kam am 3. Augsut um 16.00 Uhr zuhause an und machte mich am Folgetag um 6.00 Uhr morgens auf den Weg nach Cervinia. Dieses Dorf liegt auf der italienischen Seite des Matterhorns. Mein Bergführer empfahl mir den Aufstieg von dieser Seite her über den Liongrat, da er interessanter und anspruchsvoller ist als der übliche Weg über den Hörnligrat auf der Schweizer Seite. Zudem seien hier viel weniger Bergsteiger zu erwarten, was allerdings nicht zu verwundern ist bei doppelt so anspruchsvoller Strecke!
Es stand mir also ein Wechsel von 39 Grad in Italien zum Schnee auf dem Matterhorn auf knapp 4 500 Metern bevor. Da hatte ich mich ja auf ein rechtes Abenteuer eingelassen …
Wir waren zu viert (je ein Belgier, ein Rumäne, ein Italiener und eine Schweizerin) und vier Führer (d. h. einer pro Kunde). Somit war ich die einzige Frau, und auch noch zusätzlich mit einem «Handicap».
Die Strecke liess bezüglich körperlicher Anforderungen nichts aus. Hier hatte ich mich jetzt wirklich auf den puren und anspruchsvollen Alpinismus eingelassen … denn der Aufstieg aufs Matterhorn ist von der Südseite her mit einer Höhendifferenz von 1 678 Metern eine schwindelerregende Kletterei. Ständig kann man beidseits in endlose Abgründe blicken, in einer unendlichen Welt von Geröll und Steinen.

Auf dem Weg zum Matterhorngipfel
Auf dem Weg zum Matterhorngipfel

Aufsteigen bis zur Erschöpfung
Glücklicherweise bin ich absolut schwindelfrei und habe keine Probleme, wenn ich von grossen Höhen in die Tiefe blicken muss. Dabei profitiere ich auch von meinem guten Gleichgewichtssinn. Aber für den 1 000-Meter-Aufstieg über die Carelhütte auf 3 835 m Höhe hinauf braucht es ausserdem sehr viel Kraft und eine perfekte körperliche Kondition.
Ich war glücklicherweise gut trainiert, guten Mutes und voller Energie … aber trotzdem nicht auf das vorbereitet, was mich kurz vor Erreichen des Zwischenhaltes erwartete: Rund 200 Meter unterhalb der Hütte geriet ich plötzlich und akut in einen totalen Erschöpfungszustand, fand mich praktisch am Seil hängend an einer senkrechten Felswand, wo man nicht einmal die Füsse absetzen kann. Ich empfand deutliche Symptome einer beginnenden Höhenkrankheit: Übelkeit, Kraftlosigkeit, lahme Arme und Beine. Ich war verzweifelt, fühlte mich verlassen … bis ich plötzlich verspürte, wie ich von zwei oder drei kräftigen Männern hochgezogen wurde, aufs schützende Plateau.
Stolz war ich nicht. Ich betrachtete mich eher als Versagerin. Der Gipfel schien mir unerreichbar …und die ungetrübte Begeisterung für die Bergwelt schien ins Wanken zu geraten.
Dennoch: Nach ergiebigem Ausruhen oben in der Hütte (unserer Achtergruppe standen eine Küche und ein separater Schlafraum zur Verfügung), einer feinen Platte mit Teigwaren, etwas Rotwein, in guter Gesellschaft und heiterer Stimmung (schon der Weg zu Toilette war ein Erlebnis für sich) und nach Einnahme einer Schlaftablette war ich am nächsten Morgen um vier Uhr wieder fit. Ich hatte gut und erholsam geschlafen und war angeblich die einzige, die geschnarcht hatte …

Geschafft! Tania Volery und ihr Bergführer auf dem Matterhorn.

Geschafft!
Die ersten Kletterzüge waren an diesem Morgen im prallen Gegenlicht. Ich musste mich, geblendet von der aufgehenden Sonne, auf die zwei Meter vor meinen Füssen konzentrieren, ohne die Aussicht bewundern oder die noch bevorstehende Aufstiegsstrecke abschätzen zu können. In angemessen langsamem Tempo (man war über 4 000 Metern Höhe) bewältigte ich die noch anstehenden Klettertouren am Seil problemlos, so dass mein Führer (es war übrigens sein 33. Aufstieg) und ich an diesem Tag als erste aus unserer Achtergruppe den italienischen Matterhorngipfel erreichten!
Die zum Teil fürchterlichen Strapazen waren angesichts der überwältigenden Aussicht rasch vergessen. Über die weite Bergwelt, die sich vor uns ausbreitete, wölbte sich ein wolkenloser Sommerhimmel mit der aufgehenden, strahlenden Sonne knapp über den östlich gelegenen verschneiten Berggipfeln.
Nur … ich hatte leider vergessen, beim Aufstieg an diesem Morgen mein Blutzuckermessgerät vor der Kälte zu schützen: Natürlich funktionierte es nun nicht mehr. Ich musste das Insulin in meiner Pumpe also nach Gefühl dosieren.
Der Abstieg war sehr lang und viel gefährlicher als der Aufstieg, da bei jedem Absetzen eines Fusses der Stein, der Halt bieten sollte, abzukippen drohte. Es passierte aber nichts.
Kurz bevor wir die Hütte wieder erreichten, fühlte ich mich schon wieder elend. Immerhin konnte ich jetzt den Blutzucker wieder kontrollieren. Er betrug 21,7 mmol/l. «Ja, nun», dachte ich, «kein Wunder: Ein bisschen Adrenalin als Ursache … und ein längst fälliger Katheterwechsel steht ja auch noch an.»
Mein Führer, der zum ersten Mal eine Diabetikerin als Kundin hatte, reagierte beinahe panisch: «Kein Problem, ich rufe den Helikopter!» Ich sagte ihm, dass ich nur den Katheter wechseln müsse, was ich bereits früher hätte tun sollen. So war dann 45 Minuten später alles wieder in Ordnung. Der Blutzucker betrug 6,3 mmol/l.
Die letzten Stunden in dieser nicht endenden Steinhalde waren mühsam und schienen unendlich, aber schliesslich gelangten wir um 15.30 Uhr wieder zum Ausgangspunkt vom Vortag zurück.
Ich war erschöpft, glücklich und dankbar, dass ich meine Sommerferien mit einem solch grandiosen Erlebnis hatte abschliessen können. Stolz war ich auch. Hatte ich es doch geschafft, mit meinem ständigen Begleiter, dem Diabetes, auf fast 4 500 Meter Höhe zu gelangen. Ein Traum war in Erfüllung gegangen!
Artikel erschienen im «d-journal romand», 4/17

Anmerkung der Redaktion:
Hochachtung vor den Leistungen von Frau Volery! Für unsere weniger bergerfahrenen Leser- und das werden die meisten sein – möchten wir anfügen, dass die ­«Haute Route» in der Regel nicht alleine bewältigt werden sollte. Für Unerfahrene bietet es sich sogar an, einen Bergführer beizuziehen.

AutorIn: Übersetzt und adaptiert von Dr. med. A. Spillmann