Das gründliche Kauen ist der erste und entscheidende Schritt der Verdauung: Es zerkleinert die Nahrung mechanisch und vermischt sie mit Speichel, der Verdauungsenzyme enthält. Wenn dieser Schritt – etwa durch Zahnverlust – entfällt, gelangen grössere und weniger vorverdaute Nahrungsstücke in den Magen-Darm-Trakt. Ein Teufelskreis beginnt, was insbesondere bei chronischen Erkrankungen wie Diabetes problematisch ist, wie das Beispiel zeigt.
Die 70-jährige Frau M. hat seit einiger Zeit Probleme mit ihrem Magen und ihrer Verdauung. Sie fühlt sich schlapp und kraftlos. Kürzlich konnte sie gerade knapp einen Sturz vermeiden. Weil ihr die Situation Angst macht und sie seit einigen Jahren von Diabetes mellitus Typ 2 betroffen ist, entschliesst sie sich, dies mit ihrem Hausarzt zu besprechen, und vereinbart einen Termin. Der Arzt stellt fest, dass ihre Blutzuckerwerte erhöht sind. Er fragt sie nach ihren Ernährungsgewohnheiten. Da Frau M. derzeit eher stark verarbeitete Lebensmittel wie Suppen konsumiert, verordnet er ihr einen Termin bei der Ernährungsberatung. Zudem sprechen sie über die offensichtlich angegriffenen Zähne von Frau M. Sie gesteht, dass sie seit längerer Zeit aus Kostengründen nicht mehr bei der Zahnärztin und der Dentalhygiene war. Der Arzt empfiehlt ihr, mit der zuständigen Stelle Kontakt aufzunehmen, da sie als Bezügerin von Ergänzungsleistungen ein Anrecht
auf Kostenübernahme bei dringenden Zahnbehandlungen hat. Ein Rat, den sich Frau M. zu Herzen nimmt.
Wie weiter?
Die Zahnärztin stellt fest, dass die Zähne von Frau M. in einem so schlechten Zustand sind, dass sie eine Prothese benötigt. Die Kosten hierfür können ebenfalls über die Ergänzungsleistungen verrechnet werden. Parallel dazu nimmt sie den Termin bei einem auf Diabetes spezialisierten Ernährungsberater wahr. Gemeinsam schauen sie, wie Frau M. ihre Ernährungsgewohnheiten
verbessern könnte. Er zeigt ihr, woraus eine ausgewogene Mahlzeit besteht.
Die Situation verschlechtert sich
Die Zeit vergeht, Frau M. hat ihre Prothese, trägt sie allerdings nur sporadisch, weil sie ihr unangenehm ist und wehtut. Aus Angst, Zusatzkosten aus der eigenen Tasche berappen zu müssen, traut sie sich jedoch nicht, dies der Zahnärztin zu sagen. Dem Rat des Ernährungsberaters folgend, isst sie wieder frisch zubereitete Gerichte, obwohl sie insbesondere Fleisch schlecht kauen kann und deshalb in grösseren Bissen schluckt. Allerdings nehmen nun die Beschwerden zu statt ab. So hat sie beispielsweise regelmässig Durchfall. Verzweifelt sucht sie erneut den Ernährungsberater auf.
Kleine Ursache, grosse Wirkung
In einem ausführlichen Gespräch besprechen sie noch einmal die Ernährungsgewohnheiten von Frau M. Sie gesteht, dass sie bereits wieder im Begriff ist, auf Suppen umzustellen, weil sie frisches Gemüse, Salat und andere ballaststoffreiche Lebensmittel, aber auch Fleisch schlecht kauen könne. Sie erklärt, dass sie sich mit ihrem neuen Gebiss unwohl fühlt und es deshalb beim Kauen nicht wirklich verwendet. Nun wird klar, wo das Problem liegt. Das Kauen ist ein wichtiger Faktor bei der Verdauung und hat eine bedeutende Funktion. Ist das gestört, ist einerseits die Zahngesundheit gefährdet und andererseits die Speichelproduktion beeinträchtigt. Die enzymatische Aufspaltung der Nahrung wird erschwert und es erreichen mehr unverdaut gebliebene Nahrungsreste den Dickdarm. Dort dienen sie nicht nur «guten» Darmbakterien als Nahrung, sondern können auch das Wachstum unerwünschter Bakterien fördern, die bei der Verwertung dieser Reste schädliche Stoffwechselprodukte wie Ammoniak, Schwefelverbindungen oder potenziell entzündungsfördernde Metaboliten produzieren. Studien zeigen, dass Menschen mit stark eingeschränkter Kaufunktion häufiger eine veränderte und ungünstigere Zusammensetzung ihres Darmmikrobioms aufweisen – was insbesondere bei chronischen Erkrankungen wie Diabetes problematisch sein kann. Bei Frau M. ist genau das passiert. Der Ernährungsberater nimmt Kontakt auf mit dem Hausarzt und der wiederum mit dem Sozialdienst und der Zahnärztin. Frau M. erhält einen Termin, um die Prothese anzupassen. Bis diese richtig sitzt, empfiehlt der Ernährungsberater, das Essen frisch zuzubereiten und dann zu pürieren. Nach fünf Monaten sehen sie sich wieder. Inzwischen sitzt die Prothese, wie sie soll, und auch das Mikrobiom von Frau M. hat sich etwas erholt. Sie ist auf dem Weg der Besserung, die Symptome werden weniger und auch der Blutzucker ist wieder häufiger im Zielbereich.
KOSTENÜBERNAHME VON ZAHNARZTBEHANDLUNGEN
Patientinnen und Patienten in schwierigen finanziellen Verhältnissen können für Zahnbehandlungen Unterstützung durch die Sozialdienste erhalten. Kosten für zahnmedizinische Behandlungen werden übernommen, wenn sie nötig, wirtschaftlich und zweckmässig sind. Auch Fonds und Stiftungen übernehmen teilweise Kosten.