Vor 41 Jahren erfuhr Franz Stainhauser von seinem Diabetes Typ 2. Er stellte sich mühelos darauf ein, denn das Wichtigste blieb gleich: Beruflich war er weiterhin im Orient- Express unterwegs. Auch später liess er sich nicht bremsen. Vor zehn Jahren, mit 76, wurde er zum Flohmarktfahrer und verkauft seither allerhand Gebrauchtes, das er repariert hat.

Auch Franziska Schneider ist handwerklich sehr begabt. Für ihre selbstgefertigten Unikate hat sie in der Wohnung ein «Lädeli» eingerichtet. Diabetes Typ 2 hat sie seit drei Jahren. Der Einblick in ihr Leben untenan.

 

→ Erfahrungsberichte und medizinische Hintergründe

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Gespräch mit Dr. Christopher Strey, Facharzt für Endokrinologie und Diabetologie, eSwiss Medical & Surgical Center, St. Gallen.

 

In der Schweiz leben etwa 450 000 Menschen mit Diabetes mellitus Typ 2 (DM2). Es sind Frauen und Männer unterschiedlichen Alters. Kann DM2 grundsätzlich jede und jeden treffen?

Eigentlich schon, denn Diabetes hängt stark von genetischen Voraussetzungen ab, die einem selbst kaum bekannt sind. Sowohl die Fähigkeit der Bauchspeicheldrüse, Insulin zu produzieren, als auch die Insulinresistenz* ist genetisch festgelegt. Wenn man Pech hat, versiegt diese Produktionsfähigkeit der Bauchspeicheldrüse schon früh oder sogar ganz zu Beginn des Lebens. Geschieht dies plötzlich aufgrund eines Autoimmungeschehens, wird ein Diabetes Typ 1 diagnostiziert. Wenn die Insulinproduktion der Bauchspeicheldrüse aufgrund einer erhöhten Insulinresistenz nicht mehr ausreicht, steigt der Blutzuckerwert, und dann handelt es sich in den allermeisten Fällen um einen Diabetes Typ 2. Diese Diabetesform verbreitet sich zunehmend. Denn sowohl Übergewicht** als auch der Alterungsprozess erhöhen die Insulinresistenz. Einerseits werden immer mehr Menschen immer früher übergewichtig, und bei ungünstigen genetischen Voraussetzungen kann sogar schon im Kindesalter ein DM2 entstehen. Andererseits werden Menschen immer älter. Weil die Gründe für Diabetes individuell unterschiedlich sind, wird man wohl mit der Zeit dazu übergehen, die Stoffwechselstörung je nach Ursache mehreren Subgruppen des Diabetes zuzuordnen. (Lesen Sie dazu auch den Bericht auf Seite 17.) Diese neue Einteilung hilft bei Diagnose und Therapie, ist aber kein eindeutiges Raster, zumal viele Faktoren des Lebens beim Diabetes mitspielen.

 

«Therapieerfolge beruhen meist auf einer patientenorientierten Medizin. Dazu gehört eine kontinuierliche, vertrauensvolle und professionelle Begleitung.»

Dr. Christopher Strey

Ob es ein DM2 oder DM1 ist, lässt sich aber klar feststellen?

Früher nahm man an, jüngere Patientinnen und Patienten haben Diabetes Typ 1, ältere einen Typ 2. So ist das längst nicht mehr. Diabetesformen und Lebensalter zum Zeitpunkt der Neudiagnose vermischen sich, was bedeutet: Diabetes Typ 2 können selbst Kinder bekommen, und Typ 1 wird in jedem Alter festgestellt. Interessant ist, dass bei alten Menschen mindestens so oft Diabetes Typ 1 neu diagnostiziert wird wie bei jungen Menschen. Heute kann man also für die Diagnose nicht mehr nach dem Lebensalter gehen. Und immer mehr Menschen mit Diabetes Typ 1 haben eine stark erhöhte Insulinresistenz wie bei Diabetes Typ 2.

Die Diagnostik ist also anforderungsreich.

Ja, klar. Der Diabetes Typ 2 zeigt sich mit vielen Facetten, der Typ 1 kann sich atypisch präsentieren, und zudem weiss man heute mehr über zusätzliche, monogenetische Diabetesformen. Hier sind es ein oder zwei defekte Gene, die beispielsweise dazu führen, dass von der Bauchspeicheldrüse nicht genügend Insulin ausgestossen wird.

Was brauchen Betroffene nach der Diagnose?

Eine begleitende, empathische Fachperson, mit Erfahrung in der Diabetestherapie, die gern Wissen vermittelt und den Diabetes ambulant behandelt. Den Betroffenen sollte die Angst vor dem Diabetes genommen und schon früh die Möglichkeit des Selbstmanagements gegeben werden. Damit der Mensch mit Diabetes von Beginn an weiss: Da kann ich selbst viel tun. Ich kann es gut machen, kann mich gesund halten und brauche keine Angst vor Spätfolgen zu haben, denn ich habe es in der Hand, diese zu verhindern. Wenn die professionelle Begleitung gut beginnt, dann läuft der Diabetes meist ein Leben lang problemlos.

Diabetes zählt zu den chronischen Krankheiten, was nach Leiden klingt.

Von dieser Vorstellung sollte man wegkommen. Für mich ist der Diabetes keine Krankheit, sondern ein Zustand, den man managen muss, um Krankheit vermeiden. Ich versuche, keine grosse Sache aus dem Diabetes zu machen und bemühe mich, dass sich Diabetikerinnen und Diabetiker nicht krank fühlen. So entsteht eine entspannte innere Einstellung, die den Umgang mit Diabetes erleichtert. Aus diesem Grund ist es mir auch so wichtig, Diabetes ambulant und nicht im Spital zu behandeln.

Viele Menschen erschrecken, wenn sie die Diagnose DM2 erhalten. Die gute Nachricht ist, dass sich diese Stoffwechselkrankheit erfolgreich behandeln lässt. Da hat sich bestimmt viel getan.

Hierfür haben Forschung und Industrie extrem viel geleistet. Die heutigen Therapiemöglichkeiten für den DM2 kann man mit jenen wie vor zehn, zwanzig Jahren nicht vergleichen. Uns stehen jetzt eine viel grössere Auswahl an Medikamenten (orale Antidiabetika) zur Verfügung, welche die Insulinresistenz direkt verbessern, das Körpergewicht senken können oder die Insulinausschüttung anregen können. Auch sind neue medikamentöse Wirkungsmechanismen dazu gekommen, wie beispielsweise die bewusste Förderung der Zuckerausscheidung über die Niere. Die Therapien bei DM2 können durch die Verfügbarkeit von Medikamenten mit verschiedener Wirkungsweise viel individualisierter durchgeführt werden. Was hinzukommt: Wissenschaftliche Daten zeigen, dass nicht nur die Behandlung von Blutzuckerwerten wichtig ist. Mindestens so wichtig ist z. B. die Behandlung des Bluthochdrucks und Cholesterinspiegels. So wird es immer notwendiger, mit der Wahl der Medikamente sowohl auf den DM2 als auch auf bereits vorhandene Krankheiten (wie z. B. Bluthochdruck oder die Nierenerkrankungen) zu reagieren. Das ist auch eine Form der individualisierten Therapie. Da die Mechanismen dieser vielen Wirkstoffgruppen für Diabetes so unterschiedlich sind, können diese gut kombiniert werden und sich gut ergänzen. Es gibt auch Studien, die aufzeigen, dass es bei der Behandlung von DM2 von Vorteil sein kann, gleich ab Beginn mehrere verschiedene, dafür aber niedrig dosierte Wirkstoffgruppen einzusetzen.

Was antworten Sie jenen, die sagen, Diabetes Typ 2 sei eine Frage des Lebensstils und benötige keine Tabletten, sondern nur eine andere Ernährung. Das kann durchaus stimmen, trifft aber nicht auf alle Menschen mit DM2 zu.

Es funktioniert nur, wenn der DM2 wirklich aufgrund von Übergewicht und des Konsums von zu viel Kohlenhydraten entstanden ist. Dann kann man z. B. durch Kohlenhydrat- Vermeidung oder radikalen Gewichtsverlust einen «nicht-diabetischen» Zustand erreichen, also eine «Remission» des DM2. Das Wort «Heilung» sollte man in diesem Zusammenhang vermeiden, da der Diabetes jederzeit wieder zurückkommen kann. Bei einem ausgeprägten Insulinmangel funktioniert diese Selbsttherapie jedoch nicht. Das muss ich als Arzt erkennen und den Patientinnen und Patienten sorgfältig erklären, weshalb es dann eventuell sinnvoll ist, ein Medikament weiter einzunehmen, selbst wenn sich der Blutzuckerwert sehr verbessert hat.

Wenn der Lebensstil eine Rolle beim DM2 spielt, sind Schuldzuweisungen nah.

Schuldzuweisungen sind völlig fehl am Platz und sogar schädlich für eine gute Behandlung. Ich finde es bedauerlich, dass beim DM2 immer noch das Vorurteil besteht, die Menschen seien selbst schuld daran. Da wird starker sozialer Druck ausgeübt, ge rade bei Menschen mit Übergewicht. Ich möchte die Patientinnen und Patienten ermutigen und aufklären, ihre Schuldgefühle abbauen und ihr Selbstwertgefühl stärken. Letztlich geht es um das Erreichen von gemeinsam definierten, realistischen Behandlungszielen, die alle Lebensbereiche berücksichtigen und bei jeder Konsultation angepasst werden müssen. Wenn Diabetes nicht weh tut und der Patient ganz andere Ziele als ich verfolge – dann muss ich als Arzt geduldig sein und darf keinen Druck ausüben. Da hilft es, die «Verhandlungen» über die Jahre weiterzuführen, denn sehr oft verändern sich die Lebensumstände oder die Einstellung meiner Patientinnen und Patienten, was dann wieder gemeinsame Behandlungsziele erreichbar macht. Therapieerfolge im Diabetesmanagement beruhen meist auf einer patientenorientierten Medizin auf der Basis einer vertrauensvollen und ausgewogenen Patienten- Arzt-Beziehung.

 

«Ich versuche, keine grosse Sache aus dem Diabetes zu machen und bemühe mich, dass sich Diabetikerinnen und Diabetiker nicht krank fühlen.»

Dr. Christopher Strey

DM2 kann bedeuten, Insulin zu spritzen, wenn die Tabletten (orale Antidiabetika) für die Senkung des Blutzuckers nicht mehr ausreichen. Viele Betroffene möchten aber die Insulintherapie verhindern.

Auch hier ist viel Aufklärung notwendig. Manche Menschen verbinden Insulin mit Diabetes-Komplikationen und Entgleisung oder dem Endstadium von DM2. Das kommt wohl von früher: Bei der Mutter oder dem Grossvater kam die Diagnose viel zu spät, sodass Insulin erst eingesetzt wurde, als bereits schwerwiegende Diabetes-Komplikationen und viel Leid bestanden. Das hat sich in den letzten Jahren völlig geändert, da Diabetes Typ 2 meist zu einem frühen Zeitpunkt entdeckt wird und Insulin zur Verhinderung von Komplikationen eingesetzt wird. Ausserdem ist die Anwendung von Insulin im Vergleich zu früher mit viel weniger Aufwand verbunden.

Wenn die schlimmen Folgen bei der heutigen Generation seltener auftreten, könnten diese Ängste verschwinden.

Richtig. Und dadurch entsteht für die professionelle Begleitung eine neue Herausforderung. Denn nun müssen wir erst recht und gut nachvollziehbar erklären, weshalb es sich lohnt, den Diabetes ernst zu nehmen. Auch wenn er nicht weh tut und immer weniger Menschen erlebt haben, welchen Schaden Diabetes anrichten kann.

Was wird sich in Zukunft bei DM2 verändern?

Die Individualisierung der Diabetestherapie wird weiter fortschreiten, was die Effektivität der Therapie erhöhen wird. Wir werden die Übergewichtigkeit, immer noch einer der Hauptgründe für DM2, wirksamer behandeln können. Einmal dank neuer Medikamente, die schon jetzt Zulassungen erhalten, aber auch weil die Gesellschaft mehr Verständnis dafür aufbringen wird, wie schwierig es ist, das Gewicht unter Kontrolle zu bekommen. Adipositas (Fettleibigkeit) wird mehr und mehr als eine behandlungsbedürftige Krankheit angesehen werden. Bestimmt werden auch weitere Anti- Diabetes-Wirkstoffgruppen entwickelt. Zudem wird sowohl die Blutzuckermessung als auch die Typisierung der DM2-Untergruppen und somit die Diagnostik weiter verfeinert und verbessert werden. Ich wünsche mir für die Zukunft, dass patientenorientierte Medizin noch selbstverständlicher und allen Menschen zugänglich gemacht wird. Dazu gehört eine kontinuierliche, vertrauensvolle und professionelle Begleitung. Egal ob diese Begleitung fach- oder hausärztlich ist oder in der Diabetesfach- und Ernährungsberatung oder im Rahmen der medizinischen Fusspflege stattfindet: Optimierung des Diabetesmanagements geschieht durch Ermutigung der Patientinnen und Patienten, ihre Selbstverantwortung wahrzunehmen.

* Es geht darum, wie empfindlich die Körperzellen auf das Hormon Insulin ansprechen, um den Blutzuckerspiegel zu senken. Bei einer hohen Resistenz wird also viel mehr Insulin benötigt, um die Blutzuckerabsenkung zu erreichen.
** Der Zusammenhang von Übergewicht und Diabetes Typ 2 wird laufend erforscht. Eine mögliche Erklärung, basierend auf vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnissen: In überschüssigem Fettgewebe können niederschwellige chronische Entzündungen stattfinden. Entzündungen erhöhen den Insulinbedarf für die Blutzuckersenkung. Die insulinproduzierenden Zellen vermögen unter Umständen nicht genug zu liefern oder ermüden. Somit erhöht sich der Blutzuckerwert.

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FRANZ STAINHAUSER (86)

 

Während des Gesprächs sitzt Franz Stainhauser in seinem «Budeli» vor einem alten Velo, das er in Gang setzt. Im Hintergrund läuft das Radio. Vor zehn Jahren wurde er zum «Flohmi-Fan», sagt der 86-Jährige munter. Er sammelt Dinge, die bei Wohnungsräumungen in der Mulde landen würden, reinigt, repariert, lagert sie und fährt damit zweimal monatlich auf die Flohmärkte in Olten und Buchs. Die Stammkundschaft weiss, an welchem Stand er zu finden ist. Sie kommen, um zu stöbern, zu kaufen und zu schwatzen. Franz Stainhauser hat immer viel Aussergewöhnliches zu erzählen – besonders wenn er auf seine Reisen mit dem Orient-Express zu sprechen kommt. In Frack, Zylinder und weissen Handschuhen begrüsste er auf dem Perron die einsteigenden, nostalgisch gekleideten Gäste. Er arbeitete während zwölf Jahren als Food and Beverage Manager beim Orient-Express, leitete eine Brigade von 18 Personen, war verantwortlich für die Personalführung, die Küche, das Bestellwesen.

Nachdem er als junger Mann in Hotels gearbeitet hatte, bewarb er sich bei der Schweizerischen Speisewagen Gesellschaft als Oberkellner und war schliesslich während 42 Jahren auf Schienen quer durch Europa unterwegs.

Im Orient-Express wurde auf Kohlefeuer gekocht, in den Schlafwagen mit Kohle geheizt und in der Bar qualmten Zigarren. Franz Stainhauser arbeitete leidenschaftlich gern und viel, dachte aber, die Lunge könnte durch die schlechte Luft geschädigt werden. 1981 wollte er die Lunge kontrollieren lassen. Vor dem Röntgenapparat stehend wurde ihm plötzlich schwindlig, sodass er zu Boden fiel und ins Spital gebracht werden musste. Dort wurde Diabetes Typ 2 diagnostiziert. «Die Lunge war aber glücklicherweise gesund, wie ich später erfuhr.»

Über den Diabetes klärte ihn die Hausärztin auf. «Das war enorm wichtig, denn ich hatte dazumal keine Kenntnis von Diabetes. Ganz ruhig, ohne mir Angst zu machen zeigte mir Frau Doktor auf, weshalb es eine perfide Krankheit ist, mit der keineswegs zu scherzen ist. Würde ich nicht gut zu meiner Gesundheit schauen, kämen die Schäden, die sich nicht reparieren lassen wie ein Defekt beim Auto

Die Hausärztin überwies den 45-Jährigen an die Diabetologin, deren fachliche und menschliche Begleitung er sehr schätzte. Um den Blutzucker möglichst gut zu regulieren, bekam er Diabetesmedikamente in Tablettenform. Zudem erhielt er Anleitungen für das Essen zu regelmässigen Zeiten. «Zu Hause liess sich das dank meiner Frau leicht einhalten: Alles abwägen und nicht planlos schöpfen. Aber im Zug musste ich oft schnell im Stehen etwas essen und bekam wenig Schlaf. Beides war für den Diabetes nicht das Beste. Hingegen war ich von früh bis spät auf den Beinen, was den Blutzucker bestimmt günstig beeinflusste. Jedenfalls war der Langzeitwert meist gut.»

Fünfzehn Jahre nach der Diagnose schlug die Diabetologin vor, die Dosierung der Tabletten nicht weiter zu erhöhen, sondern zusätzlich einmal täglich Langzeitinsulin zu spritzen. «Das war kein Problem. Ich musste mich einfach umgewöhnen und daran denken, stets alles dabei zu haben. Das Blutzuckermessen war für mich bald selbstverständlich. Heute übernimmt das der elektronische Sensor, über den ich sechsmal täglich die Werte ablese und ins Büchlein schreibe, das ich zur nächsten Arztkontrolle mitbringe. Einmal jährlich gehe ich auch zum Augenarzt, der jedesmal feststellt, ich sei ein Wunderkind. Also mache ich so weiter.»

Mit 70 wurde Franz Stainhauser pensioniert, nachdem er die letzten fünf Berufsjahre im Speisewagen des «Roten Doppelpfeils», bekannt als Churchill- Zug, die Tagesgäste durch die Schweiz begleitet hatte. Mit der Pensionierung erhielt er mehr Zeit, die privaten Kontakte zu pflegen, auch im Männerturnverein, wo er seit 20 Jahren Mitglied ist. Neben der körperlichen Aktivität, die er auch kontinuierlich im Fitnesscenter trainiert, bedeuten ihm Begegnungen, Geselligkeit und Gespräche immer noch genauso viel wie damals in den Zügen. «Mein Leben ist bewegt geblieben. Gebremst hat mich der Diabetes nie. Noch immer kann ich meine Pläne verwirklichen und mich über das Leben freuen.»

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FRANZISKA SCHNEIDER (57)

 

Schon früh hatte Franziska Schneider viel über Diabetes gewusst. Weil ihr Vater so weit sie sich erinnern konnte mit Diabetes Typ 1 lebte und ihre Mutter später mit Diabetes Typ 2. «So war es speziell, dass ich bei mir die Symptome nicht erkannte. Wenn ich Mühe mit Lesen hatte, dachte ich, es liege an der neuen Gleitsichtbrille. Auch den starken Durst deutete ich nicht richtig.»

Zum Hausarzt ging sie im September 2019, weil ihr Fussgelenk entzündet und in der Beweglichkeit stark eingeschränkt war. Die Laborresultate bestätigten die vorhandene Entzündung, doch der Hausarzt erklärte ihr, das sei nicht prioritär, denn sie habe Diabetes Typ 2. «Das hat mir fast den Boden unter den Füssen weggezogen. Weil ich den Verlauf bei meinen Eltern miterlebt hatte. Vater war nahezu erblindet mit 67 gestorben, und Mutter musste an beiden Füssen je eine Zehe amputieren lassen. Diabetes hatte ich auf keinen Fall bekommen wollen. Gesundheitlich hatte ich schon genug mit meinem Rücken zu kämpfen, den ich mehrfach operieren lassen musste.»

                                        

 

«Das hat mir fast den Boden unter den Füssen weggezogen. Weil ich den Verlauf bei meinen Eltern miterlebt hatte.
… Diabetes hatte ich auf keinen Fall bekommen wollen.»

Ihren geliebten Beruf als Herrenschneiderin in einem Uniformen- und Trachtenatelier musste sie jung, nach der ersten Rückenoperation infolge eines heftigen Treppensturzes, aufgeben. Heute arbeitet sie in Teilzeit als Aktivierungsfrau mit an Demenz erkrankten Menschen, die im Alters- und Pflegeheim leben. Diese sinnreiche Tätigkeit, bei der auch ihr Geschick als Hobby-Kunsthandwerkerin (www.tschisca.ch) gefragt ist, hat den Vorteil der wechselnden Körperpositionen.

 

Seit bald dreissig Jahren gehen Franziska und Hans Jörg Schneider gemeinsam durchs Leben.

Als Franziska Schneider vom Diabetes erfuhr, weinte sie viel. Wie immer in Krisensituationen konnte sie auf ihren Ehemann zählen, der sie auch jetzt ermunterte: «Schatz, wir schaffen das!» Als sich Franziska Schneider gefangen hatte, beschloss sie, alles zu tun, «um den Diabetes in den Griff zu bekommen». Die weit zurückliegenden Erfahrungen mit ihren Eltern haben sich bei ihr eingeprägt und erinnern sie daran, was es zu verhindern gilt. «Ich wusste, dass ich zu schwer war. Das lag am teils ungesunden Essen, aber auch daran, dass ich wegen der Rückenprobleme oft und lange Cortison nehmen musste und mich zu wenig bewegt hatte.»

Gemüse und Salat hatten schon früher zum Menü gehört, doch seit der Diabetesdiagnose reduziert sie Kartoffeln oder Teigwaren radikal aufs Minimum, bäckt ihr eigenes Eiweissbrot, nimmt dazu hausgemachte Diabetikerkonfitüre und kreiert ab und zu ein mit Birkenzucker gesüsstes Dessert. Innert sechs Monaten verlor Franziska Schneider 25 Kilogramm Körpergewicht. Bei der Diagnose betrug der HbA1c-Wert 8,7 %. «Nun liegt er je nach Jahreszeit und entsprechenden Essgewohnheiten zwischen 5,7 und 6,1 %. Indem ich gut auf die Blutzuckerwerte achte, hoffe ich, dass ich kein Insulin zu spritzen brauche.» Sie misst den Blutzucker nicht mehr so häufig wie zu Beginn, sondern beim Aufstehen und wenn sie von der Arbeit nach Hause kommt. «So weiss ich genau, was beim Essen drin liegt», sagt sie. «Alle zwei Monate gibt es im Freundeskreis eine Portion Spaghetti, und danach brauche ich erst gar nicht zu messen. Solche wenige Ausnahmen schaden nicht.» Grundsätzlich auf Pasta zu verzichten hat die willensstarke Frau sich selbst beigebracht, denn: «Der Diabetes lebt mit mir, also muss ich das Beste daraus machen. Ich betrachte ihn als Aufgabe meinem Körper gegenüber.»

Franziska Schneider tut, was sie kann, um die Menge an Kohlenhydraten möglichst tief zu halten – zum Beispiel indem sie Eiweissbrote bäckt.

 

 

AutorIn: Pascale Gmür; Fotos: Maurice K. Grünig