Lange wurden geschlechterspezifische Unterschiede bei der Behandlung von Krankheiten nicht berücksichtigt. Heute weiss man, dass das nicht richtig ist. Mit dem Lehrstuhl für Gendermedizin soll es gelingen, genauer hinzuschauen, damit Menschen mit Diabetes jeglichen Geschlechts die passende Unterstützung erhalten.

In der Schweiz leben über 500 000 Menschen mit Diabetes mellitus. Ein Blick auf die Geschlechterunterschiede zeigt, dass Männer und Frauen aus verschiedenen Gründen und mit variierenden Komplikationen betroffen sind. Typ-1-Diabetes, eine Autoimmunerkrankung, betrifft Männer und Frauen etwa gleich häufig, während Typ-2-Diabetes je nach Geschlecht auf verschiedene Risikofaktoren zurückzuführen ist.

Männern und Frauen – was ist anders?

Frauen und Männer unterscheiden sich vor allem in der Häufigkeit und der Art der Risikofaktoren sowie in den Komplikationen, die durch Diabetes entstehen. Frauen mittleren Alters und Frauen mit Typ-1-Diabetes haben beispielsweise ein höheres Risiko für zusätzliche Autoimmunerkrankungen wie Schilddrüsenerkrankungen, Morbus Addison und Vitiligo. Männer hingegen zeigen häufiger kardiovaskuläre Probleme, die mit Diabetes in Verbindung stehen.

Frauenspezifische Risikofaktoren

Hormonelle Veränderungen im Leben einer Frau spielen eine Schlüsselrolle bei der Entstehung von Diabetes. So ist beispielsweise das Diabetesrisiko während einer Schwangerschaft erhöht. Auch nach den Wechseljahren besteht ein höheres Risiko, an Typ-2-Diabetes zu erkranken, da sich die Fettverteilung im Körper verändert und die Insulinempfindlichkeit abnimmt. Das Polyzystische Ovarialsyndrom (PCOS) gilt ebenfalls als Risikofaktor für Diabetes.

Folgen von Diabetes sind verschieden

Die Folgen von Diabetes unterscheiden sich je nach Geschlecht. Frauen mit Typ-2-Diabetes im reproduktiven Alter sind relativ stärker von kardiovaskulären Erkrankungen betroffen als ihre männlichen Pendants. Sie leiden häufiger an Depressionen und Angstzuständen, was die Krankheit zusätzlich belastend macht. Männer hingegen sind häufiger von Durchblutungsstörungen betroffen, die zu ernsthaften Komplikationen wie Amputationen führen können. Beide Geschlechter haben ein erhöhtes Risiko für Nierenerkrankungen, doch auch hier sind die Auswirkungen unterschiedlich.

Spezifische medizinische Unterschiede

Frauen mit Diabetes haben eher keine optimale Kontrolle des Blutzuckerspiegels und sind anfälliger für Entzündungen und Infektionen. Dies könnte auf hormonelle Schwankungen während des Menstruationszyklus und der Menopause zurückzuführen sein, die das Insulinmanagement komplizieren. Zudem weisen Studien darauf hin, dass Frauen häufiger mit Komplikationen wie Osteoporose, die durch den Diabetes negativ beeinflusst wird, konfrontiert sind. Männer mit Diabetes leiden hingegen öfter unter schwerwiegenden kardiovaskulären Komplikationen. Arteriosklerose, Herzinfarkte und Schlaganfälle treten bei ihnen häufiger auf. Dies könnte auf eine höhere Tendenz zu abdominaler Fettspeicherung und eine geringere Empfindlichkeit gegenüber Insulin zurückzuführen sein. Männer sind auch verstärkt von sexuellen Dysfunktionen betroffen, die durch die neuropathischen Auswirkungen von Diabetes verursacht werden. Allerdings ist das Thema der sexuellen Dysfunktion bei Frauen mit Diabetes kaum untersucht.

Mangel an Forschung mit Frauen und genderdiversen Personen

Ein zentrales Problem in der Diabetesforschung ist der Mangel an Wissen über den nicht männlichen Körper. Historisch gesehen hat sich die medizinische Forschung überwiegend auf männliche Tiere und Männer konzentriert. Klinische Studien enthalten seltener Daten von Frauen oder die Daten werden nicht geschlechtsspezifisch ausgewertet. Genderdiverse Personen wurden von der Forschung bisher fast gar nicht berücksichtigt. Dies hat zur Folge, dass Behandlungsmethoden und Präventionsstrategien häufig nicht auf die spezifischen biologischen und psychosozialen Bedingungen und Bedürfnisse von Frauen und genderdiversen Menschen abgestimmt sind.

Fokus auf junge, gesunde Männer

Warum aber wird in der Forschung immer noch oft mit jungen, gesunden Männern gearbeitet? Leider mangelt es an validierten frauenspezifischen Messinstrumenten, wie beispielsweise Fragebögen zur weiblichen Sexualität. Ein weiterer häufig genannter Grund ist die «Vereinfachung» der Studienbedingungen. Da Männer keine hormonellen Schwankungen wie Frauen während des Menstruationszyklus oder in der Menopause haben, sind Studien mit ihnen einfacher zu planen und interpretieren. Doch diese Praxis ignoriert die realen Unterschiede und Bedürfnisse, die Frauen und auch genderdiverse Menschen in der Gesundheitsversorgung haben, und trägt somit zu Ungleichheiten in der medizinischen Behandlung bei.

Es gibt Handlungsbedarf

Die Geschlechterunterschiede im Bereich Diabetes sind signifikant und vielschichtig. Während Frauen häufig von hormonellen und autoimmunen Faktoren betroffen sind, kämpfen Männer eher mit kardiovaskulären Komplikationen. Die Fokussierung der Forschung auf männliche Individuen hat zur Folge, dass viele Behandlungsansätze und Präventionsmassnahmen nicht optimal auf Frauen und genderdiverse Personen abgestimmt sind. Um eine gerechtere und effektivere Gesundheitsversorgung zu gewährleisten, ist es notwendig, diese Lücken in der Forschung zu schliessen und die spezifischen Bedürfnisse je nach Geschlecht angemessen zu berücksichtigen. Genau hier setzen die Arbeiten des 2024 lancierten Lehrstuhls für Gendermedizin der Universität Zürich an. Indem wir beispielsweise die Geschlechterunterschiede in der Diabetesforschung und -behandlung besser verstehen und adressieren, können wir sicherstellen, dass alle Betroffenen die bestmögliche Versorgung erhalten. Dies erfordert nachhaltige Anstrengungen und einen Paradigmenwechsel in der medizinischen Forschung und Praxis.

AutorIn: Redaktion d-journal und Bettina Winzeler, PD Dr. med., Leitende Oberärztin, Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Klinische Ernährung, Universitätsspital Zürich