Leben im Kambodscha. Fahrt auf dem Fluss

Bericht über ein zukunftweisendes Projekt in Südostasien. Interview mit der Diabetologin, Dr. med. Madeleine Straumann:

Kambodscha ist weit weg – wie kommt es, dass Sie sich gerade für dieses Land interessieren?
Kambodscha hat eine grossartige Vergangenheit: die wunderbaren Tempel von Angkor Wat sind Zeugen des Khmer-Reichs in den Jahren 800-1400, einer blühenden Hochkultur. Kambodschas Gegenwart ist weniger schön: 1975 – 1979 herrschte das brutale Regime der Roten Khmer. 2,5 Mio. Kambodschaner starben an Hunger oder Gewalt. 1980 folgte ein Bürgerkrieg und hinterliess ein vermintes, ausgehungertes Land. Seit 1990 herrscht Frieden unter einer autoritären Regierung. Trotz Wirtschaftswachstum sind Armut und Korruption ein Problem. 1979 – 80 arbeiteten mein Mann und ich als Ärzte in einem Flüchtlingslager in Kambodscha. Wir lernten viele dieser freundlichen, leidensgewohnten Menschen persönlich kennen und schätzen. Einige davon gelangten als Flüchtlinge in die Schweiz. Dank ihnen riss unser Kontakt zu Kambodscha bis heute nicht ab.

Ist Diabetes in Kambodscha ein Problem? Die Leute dort sind ja nicht übergewichtig.
2007 begegnete mir die kambodschanische Diabetes-Gesellschaft an einem internationalen Diabeteskongress, und ich erfuhr Unerwartetes: Diabetes ist in Kambodscha häufiger als in der Schweiz: 5 – 10 % der über 25-jährigen leiden daran. Unerkannt oder unbehandelt führt dies in wenigen Jahren zum Tod. Grund für diese Diabetesepidemie sind genetische Veranlagung und die Unterernährung der letzten Jahrzehnte.

Links: Warten auf die Arztkontrolle.
Mitte: Ernährungsberatung beim PE
Rechts: Eine PE an der Arbeit in ihrem Slum-Haus

Diabetes als Todesurteil – wieso?
In Kambodscha wird die Diabetestherapie nicht vom Staat unterstützt und es gibt keine Krankenkassen. Die Medikamente müssen selbst bezahlt werden: sie sind praktisch unerschwinglich, ausser wenn die ganze Familie finanziell mithilft.
Was dies bedeutet, zeigt das Beispiel von Rin. Sein Vater starb im Bürgerkrieg nach 1975, seine Mutter erzog ihn allein. Nach Schulabschluss trug er als Wächter und Lagerist zum Familienunterhalt bei. 2004, mit 24 Jahren, litt er zunehmend an Müdigkeit, Gewichtsverlust, Durst: Diabetes! Man versuchte es mit (billigerer) traditioneller Medizin: ohne Erfolg – später mit Tabletten: ohne Erfolg. Nach einigen Monaten wog Rin noch 40 kg, er wurde arbeitsunfähig. Er brauchte dringend eine Insulintherapie. Aber seine Familie hatte kein Geld dafür: man gab ihn auf.
Rin gab nicht auf. Er wollte leben … und er hatte Glück: jemand schickte ihn zu MoPoTsyo.

Was ist MoPoTsyo?
MoPoTsyo heisst «Krankheits-Informationszentrum». Es ist ein Verein (NGO), mit dem Ziel, das Leben mit Diabetes auch für arme Leute und Leute auf dem Land leichter und erschwinglich zu machen. Seit 2007 stehe ich mit MoPoTsyo im Kontakt und habe seither die NGO persönlich besucht und finanziell unterstützt. Ihr Wirken und ihr Engagement haben mich beeindruckt.

Wie funktioniert MoPoTsyo?
Der Verein hat beschränkte Ressourcen und setzt deshalb auf Basisarbeit: ausgewählte Diabetes-Betroffene werden zu Peer Educators PE («Kollegen-Beratern») ausgebildet, und sie führen ein «Patient Education Center» im Gesundheitszentrum ihres Wohnorts oder bei sich zuhause.
Mit Hilfe von Urinzuckertests und Blutdruckmessungen finden sie Diabetes-Betroffene ihrer Region. Neu entdeckte Diabetiker erhalten beim PE Schulung, Beratung, Kontrollen von Blutzucker und Blutdruck sowie Gutscheine zum Kauf verbilligter Medikamente. Regelmässig werden Blut­entnahmen und Arztkonsultationen für sie organisiert. Der PE bekommt so die wichtige Funktion eines Ansprechpartners für die Diabetiker seiner Umgebung. MoPoTsyo verlangt eine geringe Gebühr für diese Dienstleistungen, bedürftige Leute werden gratis behandelt.
Ein wichtiger Teil der Arbeit besteht zudem in der Abgabe von Medikamenten: Wegen der grassierenden Korruption sind Medikamente in Kambodscha überteuert. Deshalb kauft MoPoTsyo Medikamente deutlich billiger direkt auf dem Weltmarkt ein und verkauft sie seinen Mitgliedern mit kleinem Aufpreis. So werden zwei Ziele gleichzeitig erreicht: die Medikamente sind für alle erschwinglich und MoPoTsyo macht einen kleinen Gewinn.
Die Arbeit der Peer Educators steht unter der Leitung der Zentrale von MoPoTsyo in Phnom Penh. Sie stehen in engem persönlichem und elektronischem Kontakt zueinander. Diese Gruppe ist verantwortlich für Planung und Kommunikation, Schulung/Begleitung der Peer Educators, Beschaffung und Lagerung der Medikamente, Organisation der Arztkontrollen, Qualitätskontrolle und Supervision, die Finanzen.

Vorstandsmitglieder vom Förderverein MoPoTsyo
Vorstand Förderverein MoPoTsyo. Von links nach rechts: Sabina Bättig, Gottfried Rudofsky, Madeleine Straumann, Doris Fischer, Vreni Amsler, Franz Wüthrich, Edith Neuenschwander, Nicole Allemann, Mike Zimmermann.

Was ist aus Rin geworden?
Bei MoPoTsyo bekam Rin erstmals Informationen über seine Krankheit und was er selbst dagegen tun kann, und er bekam Insulin zu einem erschwinglichen Preis. Für Rin begann so ein neues Leben: Er wurde Peer Educator und half mit beim Aufbau von MoPoTsyo. Heute ist er Leiter aller Peer Educators mit guten Kontakten zu seinen Kollegen-Beratern und den lokalen Behörden.

Wie hat sich MoPoTsyo seit seiner Gründung entwickelt?
Heute ist MoPoTsyo in 19 Slums und armen Regionen tätig: über 14 000 registrierte Patienten werden von über 200 Peer Educators betreut. Jedes Jahr kommen ein bis zwei neue Zentren hinzu. Dank dem Gewinn aus dem Medikamentenverkauf will MoPoTsyo bis in fünf Jahren finanziell unabhängig sein. Bis dann ist Sponsoring notwendig. Belgische und amerikanische Universitäten unterstützten dieses Pionier-Projekt in seinen ersten Jahren, verbunden mit Studien, die seine Wirksamkeit und Effizienz aufzeigten. In den letzten Jahren sind Privatpersonen die Hauptsponsoren geworden.

Förderverein Schweiz MoPoTsyo

Menschen mit Diabetes und Diabetes-Professionals der Region Olten haben dazu den Förderverein Schweiz MoPoTsyo gegründet. Wir helfen mit, dass MoPoTsyo die nächsten fünf Jahre bis zu seiner Selbstständigkeit übersteht.

Das «d-journal» dankt Dr. med. Madeleine Straumann für dieses Gespräch.