In einer Veröffentlichung der WHO vom April 2011, hatte ich gelesen, dass im Senegal jährlich ­1737 Personen an Diabetes sterben, das sind 2,12 % der gesamten Sterberate.

Diabetes Mellitus im Senegal? Ich bin mit einer Gruppe von Volontären aus dem Kanton Tessin nach Milano Malpensa unterwegs. Mein Reisebegleiter, ein Arzt, betrachtet mich skeptisch und möchte wissen, ob ich denn in Senegal viele Diabetiker zu sehen erwarte. Diabetiker im Senegal?

Alice Caviglia, Diabetesberaterin und Moussa, der junge Fischer und Diabetiker Typ 1.
Alice Caviglia, Diabetesberaterin und Moussa, der junge Fischer und Diabetiker Typ 1.

Ich bin Diabetesberaterin und habe mich mit Blutzuckermessgeräten, Messstreifen, Stechhilfen, Nadeln und didaktischem Material eingedeckt. Sollte ich keine Diabetiker zu Gesicht bekommen, kann ich Wunden versorgen oder mich nützlich machen, wo man mich braucht.
In unserer Gesellschaft ist das Wohlstandsyndrom ein wachsendes Problem. Aber im Senegal? Ich bin abgereist, ohne mich genau zu informieren, und stelle mir jetzt viele Fragen.
Der Senegal ist ein Staat in Westafrika mit Dakar als Hauptstadt. Sein Gebiet umfasst rund 197 000 km2, für eine Bevölkerung von weniger als 14 Mio. und ist fast ganz flach. Das Land erstreckt sich von der Sahel-Zone im Norden, einer Übergangszone zwischen den trockenen Regionen der Sahara, und den Feuchtgebieten von Guinea im Süden. Im Westen grenzt der Senegal an den Atlantischen Ozean. Das Klima ist tropisch, mit einer langen Trockenzeit im Winter und einer Feucht-Nasszeit im Sommer.
Die Landwirtschaft beschäftigt die meisten aktiven Menschen im Senegal. Sie ist einigermassen differenziert, auch wenn man eine grosse Abhängigkeit vom Anbau von Erdnüssen, ein Überbleibsel der Kolonialzeit, beobachten kann.
Wir landen am späten Abend in Dakar, es ist sehr heiss und bereits dunkel. Die erste Nacht verbringen wir in einem einfachen, aber sehr schönen typischen Strohdach Bungalow-Hotel. Ich bin müde und schlafe mit dem Wellengeräusch des Atlantiks gleich ein. Morgen werden wir weitersehen.
Wir fahren mit privaten Taxis über holprige Strassen Richtung Norden. Die ausrangierten Autos, ohne Spiegel, mit zertrümmerten Scheiben, flachen Pneus und Bremsen, die, so wie wir hoffen, dann auch funktionieren, sind hier im Senegal der Stolz eines jeden Besitzers. Wir erreichen Mboro, die kleine Stadt im Norden, und Ausgangspunkt für die «Associazione Pro Senegal», ohne nennenswerten Zwischenfall. Der Empfang der Einheimischen ist überaus herzlich. Unsere Ärzte haben alte Computer mitgebracht, welche sogleich beschlagnahmt werden. Damit hofft man, wird die Arbeit der Lokalen einfacher werden.
Die Fahrt geht weiter über noch holperigere Strassen nach Mboro Plage, einem kleinen Fischerdorf am Atlantischen Ozean. Es erwartet uns Mandala, das Pferd, vorgespannt vor einen einfachen Holzwagen. Wir verladen unsere Koffer und machen uns auf zu Fuss, dem Meer entlang zu unseren Bungalows und unserem Zuhause für die nächsten zwei Wochen. Ich sehe das Meer, die Fischer, die kleinen Strohhäuser, die Menschen die uns beobachten und uns anlächeln, uns herzlich grüssen und uns willkommen heissen.
Am Nachmittag treffen wir uns mit der lokalen Equipe von Pro Senegal. Sie stellen uns das Programm für die nächsten zwei Wochen vor. Die meis­te Zeit werden wir in verschiedenen Gesundheitszentren und kleinen lokalen Spitälern verbringen. Die Gesundheitszentren befinden sich überall verstreut in wunderschönen kleinen Dörfern; einfache gemauerte Strukturen, ein bis zwei Zimmer mit einem Metallgestell und einer Plastikmatratze als Untersuchungstisch und mit sonst fast nichts.
Schatten spendet den wartenden Patienten ein Hof mit einem grossen Baum. Dort sind sie, Frauen, Kinder, einige Männer und Alte. Sie alle erwarten uns: die Toubab (europäische Ärtze).

Einheimische Pfleger
Dr. Balestra, Internist, Fausto Widmer Medizinstudent im zweiten Jahr, einheimische Pflegefachleute und eine Patientin (Dame in rosa).

Was erwarten sie von uns? Was können wir machen? Einer unserer Ärzte beginnt mit der Arbeit, eine Untersuchung nach der andern. Eine junge, lokale Frau bittet mich, den Menschen den Blutzucker zu messen. Es geht los! Zusammen mit ­Faus­to, einem jungen Medizinstudenten, organisiere ich mich nach bester Möglichkeit. Die junge Frau, ­Fatou, übersetzt von französisch in «wolof», die lokale Sprache.
Die erste Messung schockiert mich. Eine Frau, mittleren Alters, nüchtern: 17,4 mmol/l! Viele Fragen gehen mir durch den Kopf. Macht es Sinn, dieser langen Menschenschlange da draussen den Blutzucker zu messen? Und dann?
Blitzschnell versuchen wir eine Bestandesaufnahme zu machen. Wie, wann und was essen die Menschen? Viel weisses Pariser Brot (eine Erinnerung an die französische Kolonialzeit), Reis aus Indien importiert (!), Hirse, Maniok, Gemüse, Fisch, Geflügel und Zebu-Fleisch; meistens essen sie einmal im Tag. Der Kaffee und der Tee werden mit bis zu zehn Würfelzuckern gesüsst. Coca Cola und andere sehr süsse Getränke sind sehr beliebt, ausserdem trinken sie sehr viel Milch.
Fatou, die lokale Helferin, notiert die Namen aller Patienten mit erhöhtem Blutzucker. Wir improvisieren uns als Zeichner und Maler. Wir zeigen ­ihnen, was sie essen sollen, und brauchen das Mass der Hände, um die richtige Portion zu vermitteln. Wenig Reis, Hirse oder Maniok, viel Gemüse, viel Fisch. Wir zeichnen eine Kaffeetasse mit nur einem Würfelzucker, und zeichnen statt einem Liter Milch je Mahlzeit drei Gläser für drei Mahlzeiten. Wir werden uns sehr schnell bewusst, dass viele Anwesende einen zu hohen Blutzucker haben.
Am folgenden Samstag ist im Dorf Mboro eine Weiterbildung für lokale Pflegende und eine allgemeine Information über Diabetes für die Dorfbevölkerung geplant. Wir laden alle neuen Diabetiker dazu ein. An jenem Abend fällt es mir schwer einzuschlafen. In meinem Kopf drehen sich viele Fragen. Wie können wir etwas Nachhaltiges auf die Beine stellen. Wie können wir die lokale analphabetische Bevölkerung sensibilisieren? Wie sie weiter betreuen? Wie ohne teure Medikamente, ohne Messgeräte und Streifen? Ist es überhaupt möglich?
Wir haben den ersten Schritt gemacht und ihnen ein wenig Hoffnung, aber auch Unsicherheit gegeben. Unsere kurze Präsenz im Senegal reicht nicht aus, die Patienten genug zu informieren. Wir müssen alle Pflegenden der verschiedenen Gesundheitszentren ausbilden und mit ihnen einen Arbeitsplan erstellen. Nur durch sie macht diese Arbeit Sinn. Alle Patienten mit hohem Blutzucker werden erfasst und müssen einmal im Monat in ihrem Dorf den Blutzucker messen kommen. Die lokalen Pflegenden müssen die Patienten bei jedem Besuch immer wieder zur richtigen Ernährung, zur körperlichen Aktivität auffordern.
Am Samstag wird durch einen mobilen Lautsprecher die Bevölkerung zur Blutzuckermessung aufgerufen. Und sie kommen alle. Viele von jenen, die Tage zuvor schlechte Werte hatten, haben einen tieferen Blutzucker. Die Freude ist gross. Einige Frauen laufen zusammen den Strand entlang.
Vor unserer Abreise in den Senegal hat uns die Firma Roche mit Blutzuckermessgeräten und Streifen ausgerüstet. Wir können diese nun an die Kollegen in Senegal abgeben. Sie sind begeistert und werden die Arbeit weiterführen.

Dr. Balestra mit einem kleinen Patienten.
Dr. Balestra mit einem kleinen Patienten.

Während unseres Aufenthaltes in Mboro, lässt uns der lokale Marabu, selbst Diabetiker, zu sich rufen. Wir sind alle von ihm beeindruckt; ein hoch gewachsener schöner und sehr ehrwürdiger Herr. Ein Marabu ist ein verehrter Mann, der einmal im Leben nach Mekka pilgerte. Unsere Gruppe besteht aus verschiedenen Männern und zwei Frauen. Der Marabu begrüsst die Männer mit einem Händedruck und ignoriert uns zwei Frauen. Dr. Balestra, ein Internist, beginnt die Beratung und entdeckt, dass der Marabu über gute Basiskenntnisse verfügt und eine medikamentöse Therapie mit Biguaniden und Sulfonamiden macht. Ich gebe ihm ein Messgerät und berate ihn zur Selbstmessung und zur diabetischen Ernährung. Wir sind uns bewusst, wie privilegiert der Marabu ist im Gegensatz zur armen Bevölkerung vom Senegal, er kann sich die Selbstkontrolle und teure Medikamente leisten.
Ganz anders sieht die Realität für einen jungen Fischer, Moussa, Diabetiker Typ 1, aus. Er hat von uns gehört und möchte wissen, wie sein Blutzucker ist. Er weiss nicht, ob sein Nüchtern-Blutzucker von 16,8 mmol/l gut oder schlecht ist. Er besitzt eine einzige Spritze (im Senegal kennt man den Pen nicht, er ist zu teuer), welche er seit Monaten für zwei verschiedene Insuline, ein Mischinsulin und ein Rapidinsulin braucht. Er hat keine Möglichkeit, den Blutzucker zu messen. Trotzdem macht er uns einen guten Eindruck. Als Fischer ist er immer in Bewegung, verbraucht viel Energie und isst vor allem Fisch und Reis. Wir entscheiden uns, Moussas Therapie anzupassen, und ermöglichen ihm durch die Apotheke den Kauf von Spritzen, Insulin und einer Frigotasche. Mit einem schnellen und einem langsamen Insulin wird es für ihn einfacher sein, seine hygienische Situation wird verbessert und seine Essgewohnheiten leicht umgestellt.
Unser Ziel ist es, die Arbeit mit den Diabetikern im Senegal fortzusetzen. Die Zusammenarbeit mit den lokalen Pflegefachleuten ist optimal, aber sie muss weiter ausgebaut werden. Wir sind daran, ein Konzept für die Verantwortlichen vor Ort und für unseren nächsten Einsatz zu erarbeiten.