Sébastien Vincent treibt eine unbändige Neugier an, er hat einen ausgeprägten Sinn für gutes Essen und seine Geschichte bietet Stoff für tausend Leben. Doch hinter diesem bewegten Werdegang steht ein Mann mit Mehrfacherkrankungen: Er lebt mit Typ-1-Diabetes, rheumatoider Arthritis, Morbus Crohn und Narkolepsie, die umgangssprachlich als «Schlafkrankheit» bezeichnet wird. Wie gelingt es ihm, trotz aller Herausforderungen das Gleichgewicht zu wahren?
Schon als Kind chronisch krank Gesundheitliche Probleme spielten in Sébastiens Leben früh eine Rolle. Er erinnert sich, dass er seiner Mutter schon als Fünfjähriger beim Gemüseschälen helfen musste und dabei seine Leidenschaft für gutes Essen entdeckte. Sie litt an rheumatoider Arthritis. Drei Jahre später bekam Sébastien die Diagnose Typ-1-Diabetes. In der Schule hatte er damit ein schweres Los. «Achtung, das ist ansteckend!», zogen ihn die anderen Kinder auf. Doch er nahm es mit Humor: «Tja, dafür verschreibt mir der Arzt Schokolade!» Sein Weg führte ihn auf drei Kontinente und in sechs verschiedene Länder. Nach dem Chemiestudium war er zunächst in der Forschung tätig, wechselte dann in die freie Wirtschaft, übernahm dort Führungspositionen in der Lebensmittelverarbeitung, Kosmetik, Pharma und Chemie und beteiligte sich an mehreren Start-ups. Wie es das Schicksal wollte, verschlug es Sébastien als Post-Doktorand mit Diabetes ausgerechnet an den Ort, wo es Banting und Best vor über hundert Jahren erstmals gelang, Insulin zu isolieren. Mit etwa 30 Jahren erhielt er zwei weitere Diagnosen: Morbus Crohn und rheumatoide Arthritis. Er haderte nur kurz mit seinem Schicksal und beschloss schliesslich, es mit Humor zu nehmen. Obwohl Diabetes mittlerweile «gesellschaftlich akzeptiert» sei, belaste die Krankheit den Alltag nach wie vor: Der Blutzuckerspiegel muss überwacht und die Insulinmenge nach jeder Messung angepasst werden. Seit einigen Jahren nutzt Sébastien ein intelligentes Hybridsystem, das die Insulinmenge automatisch einstellt, was Unter- oder Überzuckerungen erheblich mildert. Seine Lebensqualität hat sich damit deutlich verbessert.
Morbus Crohn und Diabetes: eine heikle Kombination
Als chronisch-entzündliche Darmerkrankung äussert sich Morbus Crohn durch Durchfall und andere Verdauungsprobleme, die für Diabetesbetroffene besonders schwer zu bewältigen sind. Bei einer akuten Entzündung muss es oft schnell gehen: «Das europäische Schlüsselsystem Eurokey erleichtert den Zugang zugeeigneten Toiletten. In akuten Krankheitsphasen meide ich Kaffee, Kohl und fetthaltige Gerichte und esse dafür viel Joghurt. Das lässt sich zum Glück auch mit dem Diabetes vereinbaren. Um den Flüssigkeitsverlust auszugleichen, trinke ich viel Wasser und Tee.» Als Sébastien seinerzeit die Erstdiagnose erhielt,musste er mit entzündungshemmenden Kortikosteroiden behandelt werden. Diese lassen im Allgemeinen den Blutzuckerspiegel ansteigen, was für Diabetesbetroffene umso problematischer ist. Er verwendete damals bereits eine Insulinpumpe, jedoch noch ohne Blutzuckersensor. In seinem Fall wirkte das oral verabreichte Medikament jedoch nur örtlich auf die Entzündung im Darm und hatte keine Auswirkungen auf die Diabeteserkrankung. «Ob Morbus Crohn, rheumatoide Arthritis, ob bei Schmerzen oder Allergien: Langzeitbehandlungen bekomme ich nur in enger Absprache mit den behandelnden Ärzten, um negative Auswirkungen auf den Diabetes auszuschliessen. Gemeinsam konnten wir bislang immer Alternativen finden und die Behandlung mit Kortikosteroiden vermeiden.» «Ich kann mich glücklich schätzen: Akute Krisen treten nur selten auf, und dank der immunsuppressiven Behandlung merke ich die meiste Zeit nichts von der Darmerkrankung. Als ich in Asien war, veränderte sich die Verdauung durch die glutenarme, reisbasierte Ernährung. Das wirkte sich auf Morbus Crohn positiv aus. Aufgrund der anderen Absorptionsgeschwindigkeit von Reis musste ich jedoch die Kohlenhydratzahl anpassen. Zurück in Paris achtete ich auch nach der Ernährungsumstellung weiter strikt darauf, wie viele Kohlenhydrate ich zu mir nahm. Die Symptome der chronisch-entzündlichen Darmerkrankung nahmen dadurch ab und hatten kaum Einfluss auf den Diabetes. Trotzdem ist es wichtig, auf Veränderungen der Ernährung, der Verdauung und des Diabetes rasch zu reagieren und allenfalls seine Gewohnheiten umzustellen. Mit der Zeit passiert das fast schon reflexartig.» Morbus Crohn ist in der Gesellschaft deutlich weniger bekannt als Diabetes. «Hätten meine Arbeitgeber davon gewusst, hätten sie mir wohl nicht so viel Verantwortung übertragen», ist sich Sébastien heute sicher. Aus diesem Grund verschwieg er damals die Krankheit. Durch eine intensive Behandlung, die er als «Wunder» betrachtet, sind die Symptome des Morbus Crohn und der rheumatoiden Arthritis seit mehr als zwanzig Jahren gut unter Kontrolle.
Die Vierte im Bunde
Doch es kam noch eine vierte chronische Erkrankung hinzu: Die Narkolepsie fesselte ihn bis zu 18 Stunden pro Tag ans Bett. Die andauernde bleierne Müdigkeit zwang ihn, Arbeit und Hobbys aufzugeben. Dank einer neuen Behandlung kann er sich mittlerweile wieder einige Stunden am Stück konzentrieren. Diese Zeit nutzt er, um ehrenamtlich Vereine zu unterstützen, die sich für die Belange von Patientinnen und Patienten mit chronischen Erkrankungen wie rheumatoider Arthritis und Diabetes einsetzen. In seiner Freizeit liest er und geht seinen vielen Interessen nach.
Anderen zu helfen ist die Kraft, die ihn antreibt
Sébastien verschweigt nicht, dass auch ihn manchmal die Wut packt oder er seine Situation nicht wahrhaben will. Doch sein Optimismus behält stets die Oberhand. «Natürlich sind die Krankheiten da. Aber das Leben geht weiter! Auch wenn man krank ist, erlebt man viele schöne Momente. Es gibt so viele Menschen, die zwar gesund, aber nicht glücklich sind. Das finde ich sehr schade! Meine Neugier und meine Energie geben mir die Kraft, weiterzumachen. Es fasziniert mich, Neues zu lernen – deshalb lese ich so gern. Ich schätze die schönen Dinge des Lebens und den Austausch mit anderen Menschen. Lösungen finden ist motivierend und inspirierend, und durch den Austausch mit anderen Betroffenen bekam ich Lust, aktiv zu werden. So half ich vor Kurzem, eine Schulung für Patientinnen und Patienten, pflegende Angehörige und Gesundheitsfachpersonen zu entwickeln, die mit dem ‹Défi La Source 2025› ausgezeichnet wurde.» Im Podcast von diabetesschweiz können Sie hören, wie Sébastien Vincent auf Französisch von seinen persönlichen Erfahrungen berichtet.