Herr Vincent im Porträt hat neben Diabetes mellitus mit Morbus Crohn noch eine Autoimmunerkrankung des Verdauungstrakts. Warum ist er damit kein Einzelfall?
Menschen mit einer Autoimmunerkrankung wie Typ-1- Diabetes (T1D) haben ein erhöhtes Risiko, weitere Autoimmunerkrankungen zu entwickeln. Besonders häufig sind der Verdauungstrakt (zum Beispiel Zöliakie, Morbus Crohn, Colitis ulcerosa) oder die Schilddrüse (zum Beispiel Hashimoto Thyreoiditis) betroffen. Bei T1D greift das eigene Immunsystem die Insulin produzierenden
Beta-Zellen der Bauchspeicheldrüse an. Dies kann sich auch gegen andere Organe richten. Deshalb ist es nicht ungewöhnlich, dass bei T1D auch andere Erkrankungen wie Morbus Crohn auftreten.

Hat dies mit der Genetik zu tun und, wenn ja, warum?
Ja, Genetik spielt eine Rolle. Bei T1D ist das sogenannte HLA-System wichtig. HLA-Gene steuern Teile der Immunabwehr. Bestimmte HLA-Typen (wie HLA DQ2 oder HLA DQ8) kommen sowohl bei T1D als auch bei Zöliakie oder Morbus Crohn gehäuft vor. Darüber hinaus gibt es weitere genetische Veränderungen, auch ausserhalb des HLA-Systems, die das Risiko für mehrere Autoimmunerkrankungen erhöhen können.

Was weiss man über die genetischen Zusammenhängezwischen Diabetes mellitus Typ 1und Autoimmunerkrankungen des Verdauungstrakts?
T1D und Erkrankungen wie Zöliakie oder Morbus Crohn teilen sich oft bestimmte Genvarianten. So tragen viele Betroffene mit T1D auch die Risikogene für Zöliakie. Auch bei Morbus Crohn gibt es Überschneidungen, etwa im Bereich des NOD2-Gens. Genomweite Studien zeigen, dass viele dieser Genveränderungen mit der Steuerung des Immunsystems zu tun haben. Weil es sich um viele kleine Veränderungen handelt, spricht man von polygener Vererbung.

Welche Forschungsarbeiten laufen derzeit, um mehr über die genetischen Zusammenhänge herauszufinden?
Weltweit werden grosse Studien durchgeführt, bei denen das gesamte Erbgut von Menschen mit Autoimmunerkrankungen analysiert wird. Ziel ist es, Risikogene zu identifizieren, die bei mehreren Erkrankungen gemeinsam auftreten. Auch internationale Projekte wie das TEDDY-Programm oder das T1D Genetics Consortium sammeln sowohl genetische als auch Umweltfaktoren, um zu untersuchen, wie sich T1D und andere Erkrankungen entwickeln. Zusätzlich werden Aspekte wie Ernährung oder Darmmikrobiom sowie deren Einfluss untersucht.

Sind Männer und Frauen gleichermassen betroffen, oder gibt es Unterschiede?
Bei T1D sind Männer und Frauen etwa gleich häufig betroffen. Bei anderen Autoimmunerkrankungen wie Zöliakie oder Schilddrüsenerkrankungen sind es mehr Frauen. Auch Morbus Crohn tritt laut manchen Studien bei Frauen etwas häufiger auf.

Ist es bei den meisten Menschen wie hier im Beispiel so, dass sich erst der Diabetes mellitus bemerkbar macht und dann in einem zweiten Schritt die Autoimmunerkrankung, oder gibt es auch den umgekehrten Fall?
Häufig wird zuerst T1D diagnostiziert. Darmerkrankungen wie Morbus Crohn oder Zöliakie werden manchmal erst später erkannt, vor allem wenn die Beschwerden (zum Beispiel Bauchschmerzen oder Durchfall) unklar oder nicht sehr stark sind. Es gibt aber auch Fälle, in denen zuerst die Darmerkrankung entdeckt wird oder beides gleichzeitig.

 

 

AutorIn: Text: Prof. Dr. med. Markus Laimer, Stv. Klinikdirektor und Chefarzt, Universitätsklinik für Diabetologie, Endokrinologie, Ernährungsmedizin und Metabolismus (UDEM), Inselspital Bern Bild: zVg