Im Mai 1921 begannen die beiden Kanadier Frederick G. Banting und Charles H. Best mit einer Reihe von Experimenten mit Extrakten der Bauchspeicheldrüse (Pankreas), die bereits im Januar 1922 zu den ersten Anwendungen am Menschen führten. Die Geschichte des Insulins ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie Fortschritte in Wissenschaft und Technik zu neuen und besseren Möglichkeiten der Behandlung von chronischen Krankheiten führen können. In 100 Jahren hat Insulin Millionen von Menschen mit Diabetes das Überleben gesichert und den Betroffenen eine neue Lebensqualität ermöglicht.
Meilensteine der Medizin
Charles Herbert Best (links) und Frederick Grant Banting mit einem ihrer Versuchshunde auf dem Dach des Laborgebäudes. Dem jungen Hund (Nr. 408) wurde am 3. August 1921 die Bauchspeicheldrüse entfernt. Er erholte sich rasch von der Operation, was vom 4. bis 6. August Experimente mit der Injektion verschiedener Pankreasextrakte erlaubte. Am 7. August starb der Hund an den Folgen einer generalisierten Infektion.
Vorgeschichte
Banting und Best waren bei weitem nicht die ersten, die versuchten, mit Pankreasextrakten eine Behandlung des Diabetes mellitus zu finden. Eugène Gley (Paris), Georg Ludwig Zülzer (Berlin), Ernest Lyman Scott (Chicago), Israel Simon Kleiner (New York) und Nicolae Paulescu (Bukarest) sind die wichtigsten Forscher, die bereits vor Banting und Best mit Pankreasextrakten experimentiert hatten. Ob eventuell Banting oder allenfalls seinem Vorgesetzten Macleod, dem Leiter des Physiologischen Instituts der Universität Toronto, diese früheren Arbeiten bekannt waren, wurde nie sicher geklärt.
Bantings Idee
Frederick Grant Banting – Sohn kanadischer Farmer – absolvierte an der Universität Toronto ein Medizinstudium und schloss dieses 1916 ab. Kurz darauf trat er in die kanadische Armee ein und diente während des Ersten Weltkriegs als Sanitätsoffizier. Im Sommer 1920 eröffnete er eine Arztpraxis in London, Ontario, etwa 150 Kilometer westlich von Toronto. Dieser Praxis war allerdings wenig Erfolg beschieden, und Banting war gezwungen, zusätzlich an der University of Western Ontario Medizinstudenten zu unterrichten. Im Oktober 1920 kam Banting bei der Vorbereitung eines Studentenkurses auf die Idee, wie aus Pankreasgewebe ein blutzuckersenkender Extrakt gewonnen werden könnte. In sein Notizbuch schrieb er: «Diabetus. Ligate pancreatic ducts of dog. Keep dogs alive till acini degenerate leaving Islets. Try to isolate internal secretion of these to relieve glycosurea.» (Diabetus. Ligieren der Pankreasgänge des Hundes. Hund am Leben halten, bis die Azini degenerieren und die Inseln übrigbleiben. Versuch, deren innere Sekretion zu isolieren, um die Glykosurea zu lindern.) Die beiden Schreibfehler (diabetes und glycosuria) passen zur Tatsache, dass sich Banting bis zu diesem Zeitpunkt vor allem mit Kriegsmedizin sowie Orthopädie und nicht mit Diabetes befasst hatte.
Um seine Forschungsideen umsetzen zu können, ersuchte Banting nun Professor John James Rickard Macleod an der Universität Toronto um Unterstützung. Wenngleich Macleod von Banting, der zu dieser Zeit keine Forschungserfahrung, keine Publikationen und nicht einmal einen Doktortitel aufzuweisen hatte, wenig begeistert war, gab er ihm eine Chance. Er teilte ihm den 21-jährigen Studenten Charles Herbert Best als Assistenten zu und stellte ihm ein kleines, ziemlich verlottertes Labor sowie einige Versuchshunde zur Verfügung.
Die Experimente von Banting und Best
Im Mai 1921 begannen Banting und Best mit ersten Tierexperimenten, bei denen sie durch Abbinden des Pankreasgangs eine Atrophie («Verkümmerung») desjenigen Teils der Bauchspeicheldrüse auslösen wollten, der Verdauungsenzyme produziert.
Am 30. Juli 1921 erfolgte das erste erfolgreiche Experiment am Hund 410. Um 10.15 Uhr injizierten Banting und Best dem Hund 5 ml ihres Extraktes. Bis um 11.15 Uhr fiel der Blutzucker von 400 mg/dl (22.2 mmol/l) auf 120 mg/dl (6.7 mmol/l). Weitere Injektionen erfolgten um 11.15 Uhr und etwa um 12.00 Uhr. Um 14.15 Uhr erhielt der Hund dann Glukose durch eine Magensonde.
Sie hofften, anschliessend aus den verbliebenen Langerhans’schen Inseln das blutzuckersenkende Prinzip zu gewinnen. Trotz zahlreicher Schwierigkeiten machten die beiden rasche Fortschritte. Bereits am 30. Juli 1921 gelang ihnen das erste Experiment, welches eindeutig den blutzuckersenkenden Effekt einer ihrer Extrakte, den sie zu diesem Zeitpunkt Isletin nannten, zeigte. In den folgenden Wochen und Monaten wurde die Methodologie weiter verfeinert: Banting erkannte, dass sie den Extrakt aus der Bauchspeicheldrüse von Hunden nicht in ausreichender Menge herstellen konnten und beschloss, Extrakte aus der Bauchspeicheldrüse von Kälbern aus Schlachthöfen herzustellen. Mit diesen neuen Extrakten konnten sie sehr schnell eine Senkung des Blutzuckers nachweisen. Banting und Best lernten von Macleod auch die Methode der Alkoholextraktion. Dadurch konnten die Extrakte in grösseren Mengen und effektiver hergestellt und getestet werden. Am 18. November 1921 erfolgte die Entfernung des Pankreas an der Hündin Marjorie. Mit täglichen Injektionen konnte sie 70 Tage lang am Leben gehalten werden. Dieser langfristige Erfolg war eine wichtige Grundlage für Versuche am Menschen. Banting und Best führten ihre Experimente in einer Zeit und Umgebung durch, die für ihre Entdeckungen «reif» war. Ihr Erfolg kann im Wesentlichen zurückgeführt werden auf Bantings initiale Idee und seine Fähigkeiten als Chirurg, Bests Enthusiasmus als Student und Macleods Umsicht, die Gruppe zusammenzubringen und mit den notwendigen Ressourcen auszustatten. Mitte Dezember schloss sich zudem der Biochemiker James Bertram Collip dem Team an.
Erste Anwendung am Menschen
Am 11. Januar 1922 kam es in Toronto zur ersten Injektion eines Pankreasextraktes am Menschen: Es war Leonard Thompson, ein 14- jähriger Junge mit Diabetes mellitus Typ 1, der eine subkutane Injektion des von Banting und Best hergestellten Pankreasextrakts erhielt. Dabei sank der Blutzucker von 440 mg/dl (24.4 mmol/l) auf 320 mg/dl (17.8 mmol/l). Ein sehr bescheidener Erfolg. Trotzdem erschien bereits am 14. Januar in der Zeitung «Toronto Star» ein Artikel mit dem Titel «Work on diabetes shows progress against disease» (Arbeiten zu Diabetes zeigen Fortschritte im Kampf gegen die Krankheit).
Auf der Suche nach einem wirksameren Extrakt folgte für das Forscherteam eine schwierige Phase mit vielen internen Differenzen und Querelen. Gegen Ende Januar machte Collip mit der Entwicklung seines Extrakts schliesslich die nötigen Fortschritte, und am 23. Januar konnte die Therapie von Leonard Thompson wieder aufgenommen werden.
Schon bald stammte das Insulin nicht mehr aus dem kleinen Labor von Banting und Best, sondern von den Connaught Laboratories der Universität Toronto (Abb. 1). Gleichzeitig wurde der Zungenbrecher «Isletin« durch den bereits 1909 (!) von Jean de Meyer vorgeschlagenen Namen «Insulin» ersetzt. Um den riesigen Bedarf an Insulin abdecken zu können, gingen die Entdecker bereits im Mai 1922 eine Kooperation mit dem amerikanischen Unternehmen Eli Lilly ein. In den folgenden zwei Jahren vergab die Universität Toronto zahlreiche Lizenzen an Produzenten in Europa.
“Leonard Thompson (1908–1935) als junger Erwachsener. Der erste Patient, welcher in Toronto mit Insulin behandelt wurde.”
“Leonard Thompson (1908–1935) als junger Erwachsener. Der erste Patient, welcher in Toronto mit Insulin behandelt wurde.”
Leonard Thompsons weitere Behandlung war von vielen Komplikationen begleitet: Kennzeichnend für den weiteren Verlauf waren zum einen die ungenügende Insulinwirkung und zum andern Hypoglykämien. Wenigstens war er in der Lage, ein relativ normales Leben zu führen. Er ging zur Schule und spielte sogar gelegentlich Baseball. Im Frühjahr 1935, nach 13 Jahren Insulintherapie, starb Leonhard Thompson an einer Lungenentzündung. Gleichzeitig hatte er bereits eine schwere, generalisierte Arteriosklerose. Sicher eine Folge der aus heutiger Sicht schlechten Diabeteseinstellung.
Unter den ersten mit Insulin behandelten Patienten war der Verlauf von Teddy Ryder besonders eindrücklich. Im Alter von vier Jahren entwickelte er 1920 einen juvenilen Diabetes. Er wurde in der Folge auf die damals übliche Hungerdiät gesetzt. Bis er im Juli 1922 in Toronto in den Genuss der lebensrettenden Insulintherapie kam, hatte er auf etwa 12 Kilogramm abgenommen. Er wurde von Banting selber mit einer vergleichsweise liberalen Diät und zwei Insulininjektionen täglich behandelt. Im Oktober 1922 konnte er schliesslich mit seiner Mutter nach Hause zurückkehren. Er wurde später Bibliothekar und führte ein langes Leben ohne nennenswerte diabetesbedingte Komplikationen. Im erstaunlich hohen Alter von 76 Jahren starb er nach über 70 Jahren Insulintherapie an einem Herzversagen.
«Lieber Dr. Banting, ich wünschte, Sie könnten mich besuchen. Ich bin nun ein dicker Junge und ich fühle mich gut. Ich kann auf einen Baum klettern. Margaret würde Sie gern sehen. Herzliche Grüsse von Teddy Ryder» (links auf dem Bild mit seiner Schwester Margaret, 1923)
Nobelpreis für Banting und Macleod
Im Jahr 1923 erhielten Banting und Macleod gemeinsam den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin. Best und Collip gingen leer aus. Banting war wütend, dass Best nicht berücksichtigt worden war, und erwog, den Preis abzulehnen. Er hatte wiederholt den Eindruck gewonnen, dass Macleod versuchte, ihre Ergebnisse zu «stehlen». Erst Gespräche mit zwei nahestehenden Vertrauenspersonen konnten ihn schliesslich dazu bewegen, die Auszeichnung anzunehmen. Nach wenigen Tagen gab er bekannt, dass er seine Hälfte des Preises mit Best teilen wolle. Macleod kam unter Druck und kündigte schliesslich an, er würde sein Preisgeld ebenfalls teilen, und zwar mit Collip. In der Folge gab es immer wieder Diskussionen über die Verteilung dieses Preises. Insbesondere Zülzer und Paulescu beklagten sich heftig beim Nobelpreiskomitee, weil sie nicht berücksichtigt worden waren. In Anbetracht der wichtigen physiologischen Experimente des Teams aus Toronto, der Etablierung einer halbindustriellen Insulinproduktion und der erfolgreichen Anwendung am Menschen, scheint es aber angemessen, dass dieser Nobelpreis nach Toronto ging.
Erste Anwendungen in der Schweiz
In Basel war Hans Staub, damals erster Assistent der Medizinischen Klinik, in der Erforschung des Kohlenhydratstoffwechsels tätig. In seiner weiteren Karriere leitete Staub das Pharmakologische Institut der Universität Basel und später die Medizinische Klinik. Heute gilt er als erster klinischer Pharmakologe in der Schweiz. Er beschrieb 1921/22 die Regulierung des Blutzuckerspiegels bei der Einnahme von Kohlenhydraten, indem nach einem anfänglichen Anstieg der Blutzuckerspiegel durch die Insulinausschüttung wieder absank. In seinem 1924 erschienenen Buch «Insulin – Zur Einführung in die Insulintherapie des Diabetes mellitus » beschreibt er die vermutlich ersten Insulinanwendungen in der Schweiz. Es waren vier Patienten, die in der zweiten Hälfte des Jahres 1923 in Basel behandelt wurden. Als Insulinproduzenten waren in der Schweiz damals Geigy, Sandoz («Insulin Sandoz», eingeführt 1923) sowie Hoffmann-La Roche («Iloglandol », eingeführt 1923) aktiv. Wegen der nur kurzfristigen Haltbarkeit wurden die Präparate jeweils auf Abruf produziert.
Weiterentwicklung der Insulinpräparate
Spätere Bemühungen zielten primär darauf ab, die industrielle Produktion zu verbessern und die Reinheit des Insulins durch Kristallisationsverfahren zu erhöhen. 1936 wurde neben dem regulären, schnell wirkenden Insulin erstmals Protamin- Zink-Insulin in Form eines Depotpräparats verfügbar. Später folgten das sogenannte NPH-Insulin und die Zink-Insuline (Semilente ® und Lente®). In den 1960er und 1970er Jahren entwickelten die Insulinhersteller immer ausgereiftere Reinigungsmethoden, sodass die Präparate besser verträglich wurden und nur selten Allergien auslösten. Später, in den 1980er Jahren, wurde die biotechnologische Produktion von Insulin möglich, und die Verwendung von Humaninsulin weitete sich aus. Basierend auf der gleichen Technologie wurden in den 1990er Jahren und dann im neuen Jahrtausend Insulinanaloga geschaffen, die als «Designer-Insuline» neue, klinisch interessante Wirkprofile zeigten. Die Vielfalt der verfügbaren Insuline, moderne Insulininjektionsmethoden (Insulin-Pens, Insulin-Pumpen) und die Blutzuckerselbstkontrolle respektive die kontinuierliche Glukosemessung bilden heute die Basis der modernen intensivierten Insulintherapie.
1923: Insulinampulle produziert durch die Connaught Laboratorien, Toronto
Bild: Sanofi Pasteur Canada Archives