Aepfel

Apfelbäume, Nieren und Diabetes mellitus.
Dass Stoffe aus der Natur Grundlage für die Entwicklung von Medikamenten sind, kommt recht häufig vor. In Nummer 233 des «d-journals» haben wir den Zusammenhang zwischen Schimmelpilzen und Cholesterinsenkern dargestellt. – Seit einigen Monaten stehen uns zur Diabetesbehandlung neue Medikamente, die SGLT2-Hemmer, zur Verfügung. Der folgende Artikel stellt die spannende Entstehungsgeschichte dieser Medikamente und deren Nutzen im Alltag vor.

Die Entdeckung des Phlorizins
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden Bitterstoffe aus Weiden- und Chinabäumen gerne als fiebersenkende und entzündungshemmende Medikamente eingesetzt. Um das Jahr 1835 entdeckten der französische Chemiker Laurent Guillaume de Koninck und andere in der Rinde der Apfel-, Birnen-, Kirschen- und Zwetschgenbäume die bittere, blutungsstillende Substanz «Phlorizin». Diese setzt sich nach Abkochen und Abgiessen der erwähnten Wurzelrinden als weisslicher geruchloser Farbstoff ab. Phlorizin wurde bis ins 20. Jahrhundert ebenfalls gegen Fieber und Entzündungen und zur Behandlung der Malaria eingesetzt.

Phlorizin und Diabetes mellitus
Diabetes mellitus äussert sich bekanntermassen mit Zuckerverlust durch den Urin, grossen Urinmengen und Gewichtsverlust von einigen Kilogramm. Im Jahr 1886 gelang es dem deutschen Arzt Josef von Mering, bei Tieren mit hohen Dosen von Phlorizin eine vermehrte Zuckerausscheidung im Urin und die typischen erwähnten Diabetessymptome auszulösen. Dies wurde als «Phlorizindiabetes» bezeichnet. Man ging nämlich damals noch davon aus, dass Diabetes primär eine Erkrankung der Nieren sei, die eine vermehrte Zuckerausscheidung im Urin bewirkt. Erst einige Jahre später konnten Josef von Mering und sein litauischer Kollege Oskar Minkowski nachweisen, dass die Zuckerkrankheit eine Bauspeicheldrüsenerkrankung ist, die wegen eines erhöhten Blutzuckerspiegels eine vermehrte Glukoseausscheidung im Urin bewirkt.

Phlorizinwirkung in den Nieren: Das SGLT2-Transportsystem
Die Wirkung des Phlorizins auf die Nieren wurde aber erst nach Jahrzehnten verstanden. Hier ist es nicht der erhöhte Blutzuckerspiegel, sondern eine Störung der Nierenfunktion, die die Zucker­ausscheidung im Urin bewirkt. Die Nieren filtern nämlich zunächst beim gesunden Menschen täglich etwa 180 g Glukose in den sogenannten Primär­harn aus. Da dies für den Körper einen dramatischen Nährstoffverlust bedeuten würde, wird anschliessend (ebenfalls durch die Nieren) aus dem Primärharn die gesamte Glukose wieder entfernt und ins Blut zurückgegeben. Erst bei sehr hohen Blutzuckerkonzentrationen, etwa ab 10 mmol/l, wird die Kapazität dieses Rücktransportsystems überschritten (sogenannte «Nierenschwelle») und der vom Körper ausgeschiedene Urin zuckerhaltig. Phlorizin hemmt dieses Rücktransportsystem, es macht die Nieren also durchlässig für Zucker.
Es sollten noch Jahrzehnte vergehen, bis man genau verstand, wie dieses Rückwärtstransportsystem des Zuckers aus dem Urin in Blut funktioniert. Erst in den 1960er- und 1970er-Jahren fand man in den Nieren die Natrium-Glukose-Transportsysteme (englisch «Sodium depended Glucose Transporter», abgekürzt SGLT), die mit Phlorizin gehemmt werden können. Dabei ist es vor allem der SGLT2, über den 90 % der Zuckerrückresorption vom Urin ins Blut ablaufen, während der SGLT1 für die restlichen 10 % verantwortlich ist.

SGLT2-Hemmer als Diabetesmedikamente
Die neuen Medikamente, die sogenannten SGLT2-Hemmer, sind chemisch eng verwandt mit Phlorizin. Sie bewirken durch eine Blockade der SGLT2 eine vermehrte Glukoseausscheidung der Nieren in den Urin und damit eine Zuckersenkung im Blut. Dies hat als Nebeneffekt auch eine Reduktion der dem Körper zur Verfügung stehenden Kalorien zur Folge, was zusammen mit dem vermehrtem Wasserverlust eine Gewichtsabnahme begünstigt. Gleichzeitig wirkt der Wasserverlust auch leicht blutdrucksenkend, wie jedes andere wassertreibenden Medikament auch.
Zurzeit sind in der Schweiz drei SGLT2-Hemmer auf dem Markt: Canagliflozin (Invokana®), Dapagliflozin (Forxiga®) und Empagliflozin (Jardiance®). Weitere Präparate werden in den kommenden Monaten und Jahren noch zusätzlich auf den Markt kommen.

Was dürfen wir von den SGLT2-Hemmern erwarten?
In Untersuchungen, die mit SGLT2-Hemmern in Monotherapie, d. h. ohne Kombination mit anderen Diabetesmedikamenten, durchgeführt wurden, kam es zu einer Senkung des HbA1c um etwa ein Prozent und des Nüchternblutzuckers um etwa 1,5 mmol/l. Dies entspricht ungefähr der Wirkung, wie wir sie von anderen zuckersenkenden Medikamenten kennen. Zusätzlich wurden auch eine Gewichtsabnahme um durchschnittlich 2 kg und eine leichte Blutdrucksenkung um 2 bis 5 mmHg erreicht. Dabei sind keine Unterzuckerungen aufgetreten.
In der Schweiz sind diese Medikamente nur für Typ-2-Diabetiker/-innen zugelassen, obwohl sie auch bei Typ-1-Diabetes nützen könnten. Voraussetzung für die Verschreibung ist eine intakte Nierenfunktion.
Grundsätzlich gelten SGLT2-Hemmr als nebenwirkungsarm, allgemein gut verträglich, obwohl natürlich noch die Langzeiterfahrung fehlt, wie wir sie mit den «alten» Medikamenten , wie zum Beispiel Metformin, haben. Da bei Einnahme von Forxiga®, und Invokana® und Jardiance® ein gesüsster, gezuckerter Urin ausgeschieden wird, muss man aufpassen, dass es nicht zu einer Pilzinfektionen am Penis oder in der Scheide kommt. Dies kann man mit normaler Genitalhygiene aber in der Regel verhindern. Die Kosten der SGLT2-Hemmer entsprechen denen anderer neuerer Diabetesmedikamente und belaufen sich auf zwei bis drei Franken pro Tag.

Fazit
Mehr als 175 Jahre nach der Erstbeschreibung des Phlorizins haben wir mit den SGLT2-Hemmern eine neue, interessante, wirksame und nach den aktuellen Erkenntnissen auch gut verträgliche Therapieform für Typ-2-Diabetiker/-innen. Der Stellenwert im breiten Angebot an anderen Diabetesmedikamenten muss noch gefunden werden. Es sind sicher keine Präparate, die man als erste einsetzt. Dagegen sprechen die Kosten und die fehlende Erfahrung, die man in den kommenden Jahren noch gewinnen muss.

AutorIn: Dr. med. Alexander Spillmann