Junge Frau beim Bewerbungsgespräch

Der Jurist nimmt Stellung zur Informationspflicht des Arbeitnehmers mit Diabetes.
Diabetes am Arbeitsplatz ist für die Betroffenen oft ein unangenehmes Thema. Obwohl in den meisten Fällen akute Symptome nur in Ausnahmesituationen auftreten, leiden Menschen mit Diabetes unter einer einschränkenden Krankheit. Sie sind sich allerdings oft unsicher, ob sie diese dem Arbeitgeber offenlegen müssen.

Arbeitsrechtliche Informationspflichten
Grundsätzlich ist der Arbeitnehmer sowohl bei der Stellenbewerbung als auch während des Arbeitsverhältnisses verpflichtet, dem Arbeitgeber gewisse Informationen über seine Krankheit mitzuteilen. Diese Verpflichtung besteht allerdings nur dann, wenn ein Bewerber oder Arbeitnehmer für die fragliche Stelle infolge seiner Krankheit ungeeignet ist – sprich, wenn die Arbeitsleistung aufgrund der Krankheit nicht vertragsgemäss erbracht werden kann.
Der Möbelpacker mit Rückenleiden, der Bergführer mit Höhenangst und der Bäckerlehrling mit Mehlstauballergie sind z. B. aufgrund ihrer Leiden zweifelsfrei nicht in der Lage, die vereinbarte Arbeitsleistung zu erbringen. Hier besteht deshalb eine Informationspflicht. Bei weniger offensichtlichen Leiden ist die Informationspflicht aber nicht eindeutig. Zum Beispiel sind Infektionskrankheiten nur dann mitzuteilen, wenn sie eine Gefahr für Mitarbeiter oder Dritte darstellen. So ist die HIV-positive Chirurgin zur Mitteilung an den Arbeitgeber verpflichtet, der Bankkaufmann, welcher an derselben Krankheit leidet, hingegen nicht.

Differenzierung bezüglich der Symptome
In Bezug auf die Informationspflicht des diabetesbetroffenen Arbeitnehmers muss ermittelt werden, ob die Auswirkungen der Erkrankung den Arbeitnehmer für die fragliche Stelle als absolut ungeeignet erscheinen lassen oder ob eine Gefahr für die eigene Person, Mitarbeiter oder Dritte besteht. Bei Sympto­men wie starkem Durst, vermehrtem Wasserlassen oder schnellerer Ermüdung besteht deshalb in der Regel keine Informationsflicht.
Falls aber ein Risiko für Entgleisungen des Blutzuckers besteht, resultiert bei Berufen, welche etwa den Umgang mit schweren Maschinen oder Waffen erfordern, eine unmittelbare Gefahr für Dritte. Auch wenn der Beruf eine sogenannte Garantenstellung mit sich bringt – also wenn eine eingeschränkte Reak­tionsfähigkeit die Gesundheit von Drittpersonen gefährden kann – ist eine Informationspflicht in der Regel zu bejahen. Weiter besteht auch die Möglichkeit, dass aufgrund der arbeitsplatzbedingten Umgebung eine sachgerechte Lagerung des Insulins nicht oder nur unzureichend möglich ist, was wiederum zu einer erhöhten Gefahr für den Arbeitnehmer und Dritte und somit zu einer Informationspflicht führen kann.

Fallbeispiele
Das Gesagte lässt sich am besten an Hand von Fallbeispielen illustrieren:

Eine 24-jährige Bankkauffrau mit insulinpflichtigem Diabetes hat bei der Stellenbewerbung aus zweierlei Gründen keine Informationspflicht gegenüber ihrer potentiellen Arbeitgeberin. Erstens ermöglicht das Umfeld eine problemlose Selbsttherapie. Das Insulin kann einfach und gefahrlos aufbewahrt werden und aufgrund der in der Regel verfügbaren und sauberen Toiletten bietet sich für die Kauffrau – wenn sie will – die Möglichkeit, sich zurückzuziehen und sich das Insulin zu injizieren. Zweitens stellt ihr Leiden keine Gefahr für Mitarbeiter oder Dritte dar. Selbst wenn eine Bankkauffrau eine hpoglykämische Entgleisung hätte und ohnmächtig würde, würden Dritte dadurch nicht gefährdet.

Ein 45-jähriger Kranführer mit insulinpflichtigem Diabetes hat bei der Stellenbewerbung eine Informationspflicht. Obwohl in der Regel eine adäquate Aufbewahrung von Insulin auch auf einer Baustelle möglich sein sollte, besteht aufgrund der Arbeit mit schweren Maschinen im Fall einer hypoglykämischen Entgleisung (Unterzuckerung) eine unmittelbare Gefahr für Mitarbeiter und Dritte. In dieser Konstellation kann bereits ein kurzer Bewusstseinsverlust zu fatalen Unfällen führen. Selbst wenn das Risiko einer hypoglykämischen Entgleisung beispielsweise durch die Verhinderung einer Unterzuckerungsgefahr durch die Aufnahme von Zuckertabletten vermieden werden kann, besteht immer noch eine Informationspflicht. Denn das Restrisiko bleibt bestehen, dass es der Kranführer aus welchem Grund auch immer versäumt, die Unterzuckerung zu beheben und er somit eine Gefahr für Mitarbeiter und Dritte darstellt.

Bei einer 38-jährigen Pflegefachfrau im Spital, bei der kürzlich ein insulinpflichtiger Diabetes entdeckt wurde, besteht ebenfalls eine Informationspflicht. Sie kann zwar das Insulin in geeignetem Umfeld aufbewahren und ein Bewusstseinsverlust stellt keine unmittelbare Gefahr für Dritte dar, eine mittelbare Gefahr für die Gesundheit Dritter besteht aber trotzdem. Wenn die Pflegefachfrau etwa während einer Nachtschicht eine Entgleisung mit Bewusstseinsverlust hätte, während gleichzeitig ein Patient einen Herzanfall erleidet, so könnte dieser zu Schaden kommen. Eine Informationspflicht ist somit auch in diesem Fall grundsätzlich zu bejahen.

Bei einem 52-jährigen Verpacker im Versandhaus, welcher seit kurzem Tabletten ohne Unterzuckerungsgefahr gegen Diabetes Typ 2 nimmt, besteht hingegen keine Informationspflicht. Für den Verpacker würde – unter der Annahme, dass er keine schweren Maschinen wie z. B. Gabelstapler bedient – selbst Dia­betes mit einem Risiko auf hypoglykämische Entgleisungen nicht zu einer Informationspflicht führen.

Praxisbezug
Aus rechtlicher Sicht liegt bei vielen Berufen keine Informationspflicht für Diabetesbetroffene vor. Weil die meisten Fälle von Diabetes sehr gut therapierbar sind, sind Diabetiker für die Ausübung von vielen Berufen geeignet und haben somit keine Pflicht, ihr Leiden dem Arbeitgeber mitzuteilen.
In der Praxis sollten sich Diabetesbetroffene allerdings trotzdem gut überlegen, ob sie dem Arbeitgeber – oder zumindest den Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen – ihre Krankheit nicht gleichwohl zur Kenntnis bringen wollen. Dies einerseits, um die Akzeptanz und das Bewusstsein zu fördern, dass sie in der Regel mehrmals täglich eine Spritze setzen oder Tests durchführen müssen. Andererseits dient eine Information auch dem Selbstschutz, indem ihre Arbeitskollegen im Falle eines hypoglykämischen Komas wissen, wie sie sich zu verhalten haben.
Für die meisten Arbeitgeber sollte Diabetes kein Grund für eine Nichteinstellung sein. In gewissen, auf Ernährung ausgerichteten Berufen, könnte Dia­betes unter Umständen sogar ein Vorteil sein, da Betroffene bereits früh mit Ernährungsfragen konfrontiert werden und sich in der Regel eingehend damit auseinandersetzen.

AutorIn: Dr. iur. Matthias Oertle