Text: Christian Lüscher (auf dem Bild rechts im Alter von 9 Jahren)
Fotos: Zeitschrift «Schweizer Heim», Ende der 60er Jahre

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1966 muss ein Regensommer gewesen sein wie 2021. Jedenfalls schrieb damals Andreas Schneiter, der Leiter des ersten Berner Diabetikerlagers, in der Lagerzeitung: «Bald wird sie ja kommen müssen, die sich bisher nie gezeigt. Sonne, Du, die wir vermissen, sei uns endlich zugeneigt! Regenschauer – Lagertrauer? Wer das meinte, irrte sehr, denn schlecht Wetter – auf die Dauer – fördert heit’re Laune sehr.»

20 Kinder und 6 Betreuungspersonen hatten sich in jenem Regensommer für drei Wochen in einer einfachen Hütte auf dem Stoos SZ zusammengefunden. Zum Betreuungsteam gehörten ein Arzt, eine Krankenschwester, eine Diätköchin und eine Fürsorgerin. Es seien – ausser zwei kleineren Missgeschicken – keine ernsthaften Unfälle passiert, hiess es in besagter Lagerzeitung, und «wir dürfen mit freudiger Genugtuung sagen: Das Experiment Diabetikerlager hat sich gelohnt. Mit frischer Kraft werden wir an die Vorbereitung des nächsten Lagers gehen!»

In den Jahren zuvor hatten die wenigen Kinder, die an Diabetes Typ 1 erkrankt waren, bei der Organisation «Pfadfinder Trotz Allem» Unterschlupf gefunden – zusammen mit Gleichaltrigen, die körperlich oder geistig beeinträchtigt waren. Dies sei nicht mehr sinnvoll, war die Meinung. Diabetikerinnen und Diabetiker seien weder auf den Rollstuhl angewiesen, noch litten sie an einer geistigen Beeinträchtigung, und man wolle ihnen möglichst normale Ferien bieten mit Wandern, Spielen, Basteln, Singen.

Das war aus heutiger Sicht anspruchsvoll, denn es gab damals natürlich noch keine einfachen Blutzuckerkontrollen, Sensoren oder Insulinpumpen.

Die tägliche Insulindosierung passierte mehr oder weniger «Hand- gelenk mal Pi» bzw. Pipi, nämlich über die Bestimmung des Urinzuckers. Das ist nicht sehr zuverlässig, denn Zucker lässt sich erst im Urin nachweisen, wenn die Nierenschwelle überschritten wird – etwa bei 10 mmol pro Liter. Das ist ziemlich genau so, wie wenn der Tacho im Auto erst ab Tempo 100 überhaupt eine Geschwindigkeit anzeigen würde, aber Tempo 50 innerorts eingehalten werden sollte.

Und so pilgerten jahrelang jeweils alle Kinder und Jugendlichen in den Dia-Lagern zu festgelegten Zeiten mit ihren angeschriebenen Plastikbechern zur Toilette und schauten anschliessend mit grossem Interesse einem Chemie-Experiment zu. 5 Tropfen Urin und 10 Tropfen Wasser wurden mit einer Pipette in ein Reagenzglas getröpfelt, anschliessend wurde eine Tablette «Clinitest» hinzugefügt, und dann begann die Mischung zu kochen. Je nach Zuckergehalt zeigte sich eine Farbe – von Blau über Grün, Olive und Braun bis Orange. Wegen des grossen Aufwands wurde diese Übung in der Anfangsphase bloss zweimal täglich durchgeführt, dazwischen gab es doch noch genügend Zeit zum Spielen, Basteln, Singen, Wandern.

Ich erinnere mich an einen Lagerausflug im Jahr 1976, an dem ich als Hilfsleiter mitmachte. Wir unternahmen eine Zweitageswanderung und übernachteten in einem Naturfreundehaus am Schwarzsee. Zuvor hatten wir den Ort natürlich rekognosziert und am Morgen bereits die schwere Küchenwaage des Lagers und die nötigen medizinischen Utensilien hingefahren: Joghurtbecher für die Urinproben, Reagenzgläser, Notfallmaterial.

Nach der abendlichen Urinzuckerkontrolle spritzten sich alle Kinder – unter Aufsicht ihrer Leiterinnen und Leiter – mit ihrer teilweise in Alkohol aufbewahrten Glasspritze das nötige Insulin. Dann gab es unter anderem Teigwaren, jedem Kind seine persönliche Portion, serviert auf einem Teller, der mit einer Wäscheklammer namentlich zugewiesen war. Zum Dessert gab es mit Sorbit gesüssten Pudding, dessen blähende Wirkung sich schon bald in der Luft bemerkbar machte.

Die Hüttenwartin war offensichtlich beeindruckt von dem Treiben. Während des Essens stellte sie noch die eine oder andere Frage, und schliesslich erklärte sie, das Thema Diabetes interessiere sie halt sehr, denn ihre Mutter habe auch an dieser Krankheit gelitten. Wie sie es sagte, weiss ich heute noch wortwörtlich: «Jaja, Diabetes! Mini Alti isch ou drann kaputtgange.» Wir haben es mit Humor genommen.

 

 

 

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2021 Zürcher Diabeteslager in Sörenberg

Text: Pascale Gmür Fotos: Team Zürcher Diabeteslager

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Wann geschieht es? Kinder und Jugendliche, die schon an früheren Sommerlagern teilgenommen hatten, vermuteten, in einer der sechs Nächte aus den Betten geholt zu werden. Was plante das Leitungsteam diesmal? Die Ferienwoche war voller Überraschungen und Aktivitäten, mit sehr viel Spass und ein bisschen Nervenkitzel für alle. Am Mittwoch, eine Stunde vor Mitternacht, brummte das Mammut die Schlafenden wach. Sie wurden in den Wald entführt, umgeben von wundersamen Geräuschen und Lichtern, und wussten nicht, ob sie träumten. War die Zeitmaschine echt? Und die tanzenden Aliens? Das Sommerlager begann in der Steinzeit und spielte sich seit dieser Waldnacht in der Zukunft ab. Das Lagerhaus war nicht mehr eine Höhle mit Wandmalereien, Fellen und Steinwerkzeugen, sondern eine bunt flirrende Welt.

Hätten Lagerteam, Kinder und Jugendliche auf ihrer Zeitreise einen Zwischenhalt im Jahr 1966 eingelegt, wäre ihnen etwas Vertrautes aufgefallen: die hölzernen Wäscheklammern an den Tellern. Auch 2021 in Sörenberg ist die Klammer sehr hilfreich. Auf jeder steht ein Name und eine Zahl für die Menge an Brot-, Obst- oder Milchwerten. So wissen die Leiterinnen und Leiter bei jeder Mahlzeit, wie viel sie wem schöpfen sollen.

 

 

Stimmt das Team, ist das Lager erfolgreich

Die 37 Kinder und Jugendlichen sind gut unterhalten, mit vielseitigen Aktivitäten beschäftigt, aber auch medizinisch und ernährungstherapeutisch betreut. Dafür sorgt das interprofessionelle Lagerteam: Im Leitungsteam sind elf Personen, welche durch das ausgeklügelte Wochenprogramm führen; das Mediteam besteht aus zwei Diabetologinnen und zwei Diabetesfachfrauen des Kinderspitals Zürich; für die gesunde, ausgewogene Ernährung sorgt das fünfköpfige Küchenteam, mit Studierenden in Ernährung und Diätetik der Berner Fachhochschule.

Gioia Vinci ist seit elf Jahren im Leitungsteam, seit sechs Jahren hauptverantwortliche Lagerleiterin und beruflich Ernährungstherapeutin: «Der Schlüssel zum Erfolg des Lagers ist unser hoch qualifiziertes Team. Wir arbeiten eng zusammen und haben eine super Stimmung.» So fühlen sich die Kinder wohl und sicher, zumal sie in ihrer individuellen Diabetestherapie eng begleitet werden. Das Programm der Aktivitäten wurde mit den Ärztinnen vorbesprochen, und alle im Team wissen, dass die für viele Kinder aussergewöhnlichen Situationen zu Schwankungen der Blutzuckerwerte führen können. Das Team setzt alles daran, die Werte zu stabilisieren. Wichtig ist Gioia Vinci (31) auch, dass im Leitungs- team einige dabei sind, die selbst gut mit Diabetes leben. «Sie können besonders gut auf die Kinder und Jugendlichen eingehen und nehmen dabei eine Vorbildrolle ein. Vor allem für neu diagnostizierte Kinder ist es motivierend zu sehen, dass es möglich ist, später ins Lagerleitungsteam aufgenommen zu werden.»

Sich verstanden fühlen

Die Teilnehmenden sind zwischen 7 und 15 Jahre alt. Für einige ist es das erste Lager, andere waren schon mehrmals dabei. Organisiert wird die Woche vom Kinderspital Zürich und der Ferienstiftung für diabetische Kinder (u. a. finanzielle Unterstützung), in enger Zusammenarbeit mit diabeteszürich. Das Dia-Lager ist beliebt, es besteht eine Warteliste. Auch Jeremy (11) hatte sich bereits früher angemeldet, nun hat es zu seiner grossen Freude geklappt. «Wir machen hier coole Dinge. Das Wichtigste ist für mich, neue Freunde kennenzulernen. Über Diabetes reden wir hier kaum. Das ist nicht nötig, weil wir alle eine Krankheit haben, die man nicht loswird. Also weshalb sollte man darüber reden? Es gibt doch viele andere interessante Themen.»

Aleksandria (14) sagt sogar, sie habe in dieser Woche «ein bisschen diabetesfrei ». «Ich finde es erleichternd, dass sich das Team um alles kümmert. Das Essen muss ich nicht selbst abwägen, und es ist immer jemand da, falls ich unsicher bin, wie viel Insulin ich spritzen muss.» Es sei zudem befreiend, mit Leuten zusammen zu sein, die auch Diabetes haben, «da wir uns leicht verstehen, wenn wir über Diabetes reden. Bei anderen muss man jedes zweite Wort erklären.» Anka (9) ergänzt: «Wenn ich ganz viele Kinder mit Diabetes kennenlerne, fühle ich mich nicht einsam. Und es macht mir Spass, wenn wir alle zusammen viel unternehmen.» Anka möchte nächstes Jahr wieder dabei sein, genauso wie Jeremy, Aleksandria und die ganze Gruppe. Das ist zweifellos das grösste Kompliment und Dankeschön an das ehrenamtlich engagierte Lagerteam.

→ Die Patientenorganisation diabetesschweiz kümmert sich darum, dass in den Diabetes-Sommerlagern das medizinische Material von Sponsorenfirmen zur Verfügung gestellt wird. Dieses Jahr waren es die Sommerlager der Diabetesgesellschaften Zürich, Bern, Graubünden und Westschweiz.

AutorIn: 1. Teil (1966) Christian Lüscher / 2. Teil (2021) Pascale Gmür