Medikamente in Hand

Menschen mit Diabetes sind auf Medikamente angewiesen. Selbstverständlich werden die Pillen geschluckt, das Insulin gespritzt. Neue Medikamente verbessern die Lebensqualität und tragen wesentlich zu einer besseren Einstellung des Zuckers bei. Doch wie entsteht überhaupt ein neues Medikament, wie wird aus einer Idee eine Arznei?

Neue Medikamente werden in Labors und Kliniken entwickelt und erprobt. Hightech ist nötig, um sie zu erforschen und zu entwickeln: Hochleistungscomputer, neuste Analyse- und Produktionstechnik, und vieles mehr. Pharmaforscher müssen hoch qualifiziert sein, um auf Grund neuster Ergebnisse Wege zur Zulassung von Medikamenten von morgen zu ebnen.
Bis aus einer Idee eine Arznei geworden ist, vergehen normalerweise durchschnittlich 13 Jahre. Jedes Medikament durchläuft die gleichen 10 Schritte, bis es beim Patienten die Wirkung entfalten kann.

1. Marktlücke orten
Ein Pharmaunternehmen oder ein Forscherteam überlegt sich folgende Fragen:
Bei welcher Krankheit wird ein Medikament gebraucht?
Gibt es neue Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung, damit noch wirksamer als bisher in einen Krankheitsverlauf eingegriffen werden kann?
Gibt es Medikamente mit weniger Nebenwirkungen als sie die bereits vorhandenen haben?
Würde die Krankenkasse für die neuen Medikamente bezahlen?

2. Ziel festlegen / Angriffspunkt suchen
Die Forscher und Experten bestimmen das vielversprechendste Angriffsziel gegen die zu behandelnde Krankheit. Manchmal ist es sehr einfach, den geeigneten Wirkstoff zur Behandlung einer Krankheit zu finden: immer dann, wenn dem Patienten eine bestimmte Substanz teilweise oder ganz fehlt. Dann kann diese Substanz hergestellt oder gewonnen und dem Patienten als Medikament verabreicht werden. Insulin oder Gerinnungsfaktoren sind Beispiele dafür.
Schwieriger wird es, wenn Stellen (Targets) im Krankheitsgeschehen gefunden werden müssen, an denen ein Wirkstoff eingreifen könnte. An einer Krankheit sind viele Zellen und Zellverbände beteiligt, doch nur an wenigen kann ein Wirkstoff eingreifen.

3. Substanzen suchen
Nun geht es auf die Suche nach Substanzen, die zu den festgelegten Targets passen und auf diese einwirken. Dies ist eine sehr schwierige und langwierige Aufgabe, denn die Substanzen müssen eine aussergewöhnliche Kombination von Eigenschaften aufweisen. Je nach Methode können dafür Hunderttausende von Stoffen maschinell getestet werden. Passende Moleküle nennt man «Hits». Sie sind sehr selten.

4. Substanzen verbessern
Jahrelang wird nun an den aussichtsreichsten Substanzen gebastelt – etwa eine Gruppe Atome entfernt oder hinzugefügt, um die Wirkung zu optimieren. Bis zu diesem Zeitpunkt vergehen ungefähr vier bis fünf Jahre.

Kombination von Eigenschafen, die eine Substanz mitbringen muss, damit sie als Wirkstoff für ein Medikament taugt:

  • Sie muss den Zielort im Körper erreichen, an dem sie wirken soll, ohne vorher abgebaut oder ausgeschieden zu werden.
  • Sie muss sich dort mit den Zellen des Körper oder eines Krankheitserregers verbinden, die im Krankheitsgeschehen eine wichtige Rolle spielen.
  • Sie muss vom Körper nach der Wirkung wieder abgebaut oder ausgeschieden werden können.
  • Sie sollte auch bei einer mehrfachen Überdosierung nicht giftig sein.
  • Sie sollte für Embryonen unbedenklich sein.
  • Nebenwirkungen, die sie hervorruft, dürfen nicht gefährlich ausfallen. Das selbe gilt für Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten oder mit Nahrungsmitteln.
  • Sie muss grosstechnisch zuverlässig herstellbar sein.

5. Tests an Zellen und Tieren
Im nächsten Jahr prüfen die Toxikologen (Wissenschaftler, die sich mit Giftstoffen und Vergiftungen befassen) die Stoffe auf schädliche Wirkungen – zuerst an Zellkulturen, später auch mit Versuchstieren. Untersucht wird eine ganze Reihe von Gefahren, z.B. ob Krebs ausgelöst wird, ob Genveränderungen entstehen oder ob es Vergiftungen in der Niere oder der Leber gibt.

6. Tests an Gesunden
Sprechen die bisherigen Ergebnisse nicht dagegen, wird nach etwa 5½ Jahren ein Wirkstoffkandidat am Menschen getestet. Gesunde Freiwillige nehmen die Substanz ein. Vielfach sind das Mitglieder aus dem Forschungsteam, jedoch immer gesunde junge Männer. Man nennt dies die Phase I. Jetzt wird auch eine Darreichungsform für das Medikament entwickelt.

7. Test an wenigen Kranken (nach ca. 7 Jahren)
Wissenschaftler prüfen nun an wenigen Kranken, ob der Wirkstoff wie erwartet wirkt und ob er mehr bringt als ein Placebo (Medikament ohne Wirkstoff). Auch die Nebenwirkungen und die Dosis werden untersucht. Dies ist die Phase II.

8. Tests an vielen Kranken (nach ca. 9½ Jahren)
Wenn die Substanz in der Phase II die Anforderung erfüllt, werden nun Studien mit vielen Kranken durchgeführt. So können neue Erkenntnisse und Erfahrungen gewonnen werden. Dies ist die Phase III. Es kann sein, dass sich hier Eigenschaften einer Substanz zeigen, die eine weitere Entwicklung verunmöglichen, z.B. zeigen sich sehr seltene oder ungewöhnliche Nebenwirkungen.

9. Zulassung (nach ca. 12 Jahren)
Das Pharmaunternehmen kann die Zulassung bei Swissmedic beantragen. Dafür muss es tonnenweise Dokumente, Studien und Daten einreichen. Die Anforderung für eine Zulassung ist sehr, sehr hoch. Dies garantiert die Sicherheit und Qualität unserer Arzneimittel.

10. Verkauf
Nach über 13 Jahren darf des Medikament nach der Zulassung verkauft werden. Die Hersteller müssen aber weiterhin Daten sammeln, um die Sicherheit zu überprüfen (Phase IV). Vielfach wird das Medikament auch erst nach der Zulassung allen Altergruppen zur Verfügung gestellt.

Alles neu?
Nicht jedes Medikament, das am Ende auf den Markt kommt, ist revolutionär. Manch eines funktioniert ähnlich, wie ein Präparat, das es bereits gibt.
Kommt das Medikament für andere Krankheiten in Betracht, beginnen neue Phase II Studien.

Erfolgsraten und Frust
Nicht jedes Projekt zur Entwicklung eines neuen Medikaments endet mit einer erfolgreichen Markteinführung – die Mehrzahl der Projekte muss vorzeitig beendet werden. Von 5’000 – 10’000 Substanzen, die nach dem Substanzen suchen (Punkt 3) hergestellt und untersucht werden, kommen nur 9 in die ersten Studien mit Menschen (Phase I). Schlussendlich erreicht nur eine später endgültig den Markt.

AutorIn: Andrea Merkel-Hoek, eidg. Dipl. Apothekerin ETH/MPH