Wertvolle Informationen zur Diabetestherapie:

In der Diabetologie gewinnt die Zeit im Zielbereich (Time in Range) zunehmend an Bedeutung. Kann sie den Langzeitwert HbA1c ersetzen?

Autorin: Dr. med. Anne Katrin Borm, Leitende Arztin Endokrinologie, Diabetologie und Metabolismus, Kantonsspital Aarau

Erinnern wir uns: Der HbA1c-Wert ist unser Blutzuckergedächtnis. Er gibt an, wie viel Prozent des Hämoglobins (Hauptinhaltsstoff der roten Blutkörperchen) verzuckert sind. Da sich die roten Blutkörperchen in der Regel alle drei Monate erneuern, kann man aus dem HbA1c-Wert ableiten, wie der Blutzuckerwert in den letzten drei Monaten im Durchschnitt gewesen ist. Allerdings kann der gleiche HbA1c-Wert sowohl bei geringen als auch bei ausgeprägten Blutzuckerschwankungen erreicht werden. Bei häufigen Hypoglykämien (Unterzuckerungen) kann ein tiefer HbA1c-Wert eine gute Blutzuckereinstellung suggerieren, obwohl die Blutzuckerschwankungen erheblich sind und die Diabetestherapie nicht adäquat ist. Der HbA1c-Wert kann auch falsch hoch oder falsch tief sein, wie beispielsweise bei Blutarmut, nach Eiseninfusionen oder Operationen.

Seit einigen Jahren werden zunehmend Blutzuckersensoren eingesetzt. Diese werden unterschieden in Flash Glucose Monitoring (FGM; Freestyle libre® 1 und 2) und kontinuierliches Glucose Monitoring (CGM; alle anderen Sensoren). Die Krankenversicherungen vergüten ein FGM, wenn mindestens vier Insulininjektionen pro Tag erforderlich sind, und ein CGM nur nach Kostengutsprache: wenn der HbA1c-Wert mehr als 8% beträgt, bei schweren Hypoglykämien oder notfallmässigen Arztkonsultationen aufgrund stark schwankender Blutzuckerwerte.

Werte im grünen Bereich

Mit der Verwendung von Blutzuckersensoren entstand ein neuer Indikator für die Diabetestherapie: die Zeit im Zielbereich (Time in Range, TIR). Diese gibt in Prozenten an, wie lange die vom Sensor gemessenen Blutzuckerwerte in einem vorher definierten Zielbereich liegen. Dieser Wert ist also sehr stark davon abhängig, wie häufig der Sensor getragen wurde, welchen Zielbereich die Benutzerin oder der Benutzer festlegte und welche Zeitdauer für die Berechnung des TIR gewählt wurde. Empfohlen wird ein Zielbereich von 3,9 bis 10 mmol/l. Aufgrund der Voreinstellungen der diversen Apps und Programme erscheint die TIR meistens für die letzten beiden Wochen, lässt sich aber durch die gespeicherten Daten auch weiter zurückverfolgen.

Die Diabetestherapie gilt als adäquat, wenn die Sensorwerte

• zu über 70% der Zeit im Bereich von 3,9 bis 10 mmol/l liegen (= TIR > 70%),

• weniger als zu 25% oberhalb von 10 mmol/l liegen (hoch < 25%),

• weniger als während 4% der Zeit unter 3,9 mmol/l liegen (tief < 4%).

Bei jüngeren Patientinnen und Patienten wird durchaus eine höhere Prozentzahl der TIR angestrebt – bei gleichzeitiger Vermeidung von Hypoglykämien. Die betreuende Ärztin, der Arzt oder die Diabetesfachperson berücksichtigt also nicht nur die Zeitdauer im Zielbereich, sondern auch, wie lange der Zuckerwert in einem zu hohen respektive zu niedrigen Bereich lag und wie gross die Schwankungsbreite ist. Diese Sensorwerte liefern somit – vorausgesetzt, der Sensor wurde ausreichend oft getragen – eine wertvolle Ergänzung zum HbA1c-Wert, sodass die Diabetestherapie noch individueller angepasst werden kann. Da sich der HbA1c-Wert auf die letzten drei Monate bezieht, während die Angaben der TIR meist die letzten zwei Wochen betreffen, können HbA1c und TIR bezüglich Qualität der Blutzuckereinstellung voneinander abweichen.

Tabellen Blutzucker d-journal 0322 DE

Individuelle Patientensituationen

Anna hatte vor drei Monaten einen HbA1c-Wert von 11%, seit vier Wochen wird der Diabetes nun aber adäquat behandelt. Ihr HbA1c-Wert liegt bei 9%, die Time in Range der letzten beiden Wochen beträgt 79%, bei einem voreingestellten Zielbereich von 3,9 bis 10 mmol/l. Somit ist die Blutzuckereinstellung aktuell gut, obwohl der HbA1c- Wert noch zu hoch ist – weil er ja den Durchschnitt der letzten drei Monate angibt. Da die Zeit im Zielbereich für die letzten beiden Wochen gilt, der HbA1c aber die letzten drei Monate betrifft, können TIR und HbA1c hier stark voneinander abweichen.

Beate strebt eine besonders gute Blutzuckereinstellung an. Sie hat einen Zielbereich von 4 bis 6 mmol/l einprogrammiert, der Blutzucker liegt aber oft knapp über 6 mmol/l. Obwohl die Blutzuckerwerte hervorragend sind, wird sie enttäuscht sein von der niedrigen Time in Range. Casimir hat Mühe mit dem Sensor. Darum trägt er ihn nur während 30% der Tages- und Nachtstunden. Wenn er den Sensor trägt, hat er eine Zeit im Zielbereich von 75%. An den anderen Tagen achtet er jedoch nicht so sehr auf den Blutzucker, was trotz guter Zeit im Zielbereich zu einem hohen HbA1c-Wert führt.

Kapilläre Blutzuckermessung

David misst seine Blutzuckerwerte lieber kapillär, und zwar immer morgens nüchtern. Die Werte liegen um 6 bis 8 mmol/l. Voller Begeisterung sieht er in der App seines Blutzuckermessgerätes eine «Zeit im Zielbereich» von 90%. Dies bedeutet jedoch nur, dass 90% seiner gemessenen Werte (morgens nüchtern) im Zielbereich liegen. Der Wert gibt keine Informationen darüber, wo sich der Blutzucker in den anderen 23 Tages- und Nachtstunden befindet. Weil David kapillär misst und nur zu einem einzigen Tageszeitpunkt, kann trotz einer vermeintlich langen «Zeit im Zielbereich» nicht beurteilt werden, ob die Diabetestherapie ausreichend gut ist. Wird hingegen der Blutzucker vor allem nach dem Essen gemessen, liegt der Blutzuckerwert wahrscheinlich viel öfter im Zielbereich als angegeben. Dieser Zeitraum kann allenfalls etwas darüber aussagen, wie die Blutzuckereinstellung nach einer Therapieanpassung verläuft. In dieser Situation bleibt jedoch der HbA1c-Wert essenziell zur Beurteilung der Therapiequalität.

AutorIn: Dr. med. Anne Katrin Borm / Bild: shutterstock