Insulinpens

Professor Wiesli hat in dieser Nummer des «d-journals» die Insulinbehandlung wunderbar für uns zusammengefasst. Aus diesem Anlass habe ich mir ein paar Gedanken zum Insulin gemacht. Insulin hat mehr Diabetikern das Leben gerettet als jedes andere Medikament. Vor der Entdeckung des Insulins starben alle Typ-1-Dia­betiker innerhalb kurzer Zeit nach Ausbruch der Krankheit, und auch heute gibt es für Typ-1-Diabetiker keine Alternative dazu. Aber auch beim Typ-2-Diabetes ist Insulin ein sehr gutes Medikament, oft das einzige, das noch hilft, wenn alle Tabletten schon versagen.
Trotzdem hat Insulin bei vielen einen schlechten Ruf. Immer wieder stösst man als Arzt auf Widerstand, wenn die Insulinbehandlung nötig wird. Aber woran liegt das?
Sicher, Insulin kann Unterzuckerungen auslösen, und Unterzuckerungen sind im besten Fall unangenehm, im schlechtesten Fall sogar sehr gefährlich. Aber auch eine Vielzahl von Tabletten zur Behandlung des Diabetes können Unterzuckerungen auslösen, ohne dass diesen je mit demselben Widerwillen begegnet wird.
Ich dachte immer, es muss wohl am Spritzen liegen. Und sicher ist das Stechen bei vielen ein wesentlicher Faktor. Aber das Blutzuckermessen, wird praktisch immer problemlos akzeptiert, obwohl dabei der Stich mehr weh tut als der Piks bei der Insulininjektion. Und neuere Medikamente zur Diabetesbehandlung, die auch gespritzt werden müssen, werden oft einfacher akzeptiert als das gefürchtete Insulin.
Auch der Aufwand, der mit der Insulininjektion einhergeht, kann eigentlich nicht der wesentliche Grund sein. Es ist zwar ein bisschen komplizierter als eine Tablette zu schlucken, aber genau so einfach und schnell wie eine Blutzuckermessung, wenn nicht sogar einfacher.
Ich glaube daher, ein grosser Teil des Widerstands gegen das Insulin hat keinen «realen» Grund. Es sind wohl eher psychologische Faktoren, die eine Rolle spielen.
Erstens haben wohl einige Patienten das Gefühl, sie hätten bei der bisherigen Behandlung des Diabetes versagt, wenn sie mit Insulin beginnen müssen. Das Insulin wird quasi als Strafe dafür gesehen, dass sie sich zu wenig bewegt oder die Diabetesdiät nicht konsequent genug eingehalten hatten. Die Fehler bei der diabetesgerechten Ernährung werden ja gerne gelegentlich als «Sünden» bezeichnet. Dies hat vielleicht auch damit zu tun, dass früher von Ärzten zur Motivation der Patienten das Insulin als Drohmittel verwendet wurde. Dies ist natürlich kontraproduktiv, sobald es dann tatsächlich nötig wird. Und auch bei der besten Ernährung und viel Bewegung lässt die Insulinproduktion mit dem Alter langsam nach, so dass jeder Diabetiker, der lange genug lebt, früher oder später einmal anfangen muss, Insulin zu spritzen.
Ausserdem haben viele Patienten auch das ­Gefühl, Insulin zu spritzen bedeute, einen «schweren», einen «richtigen» Diabetes zu haben. Solange man «bloss» Tabletten nehmen muss, ist es eher möglich, die Diagnose zu verdrängen oder zu verharmlosen. Man hat zwar Zucker, aber bloss «es bitzeli». Wenn man hingegen Insulin spritzt, dann ist die Diagnose plötzlich handfest. Dabei spielt ja für die Folgeschäden und damit die Schwere des Diabetes das Medikament gar keine Rolle, sondern nur die Höhe der Blutzuckerwerte.
Insulin ist also bloss ein weiteres von vielen Hilfsmitteln, um seinen Diabetes gut unter Kontrolle zu halten. Der Beginn einer Insulintherapie ist zwar kein Grund, um sich zu freuen, aber auch nichts, vor dem man Angst haben muss.

AutorIn: Dr. med. Dirk Kappeler