Hände einer Frau, welche den BZ misst

Haben Sie sich auch schon einmal gewundert, ­warum Ihre Blutzuckerwerte plötzlich schlechter waren? Immer wieder mal kommen Patienten zu mir in die Sprechstunde und haben plötzlich aus unerklärlichen Gründen höhere Blutzuckerwerte als sonst. Dies obwohl sie versichern, weder bei der Ernährung noch bei der Bewegung noch bei den Diabetesmedikamenten etwas verändert zu haben.

Manchmal findet sich als Ursache dann eine Erkrankung. Jede grössere Erkrankung wie beispielsweise eine Lungenentzündung, aber auch nur eine schwerere einfache Erkältung oder eine Gelenks­entzündung, erhöhen den Blutzucker. Selbst bei einer Magen-Darm-Entzündung, bei der man wegen Durchfall und Erbrechen gar nichts mehr essen kann, kann der Blutzucker sogar noch höher sein als gewöhnlich. Grund sind die während der Krankheit vermehrt ausgeschütteten Stresshormone wie Adrenalin, Cortisol, Wachstumshormon usw. Sie alle führen zu einer vermehrten Zuckerproduktion in der Leber. Dies sind dieselben Stresshormone, die auch bei einer Prüfung, bei Ärger oder anderem seelischem Stress ausgeschüttet werden, und sie können auch dann zu einem erhöhten Zuckerspiegel führen. Die Natur stellt damit genügend Zucker als Brennstoff für Muskelarbeit zur Verfügung. Denn die natürliche Reaktion auf Stress ist der sogenannte «fight or flight»-Mechanismus, auf Deutsch «kämpfen oder wegrennen». Da heute aber in den meisten Stresssituationen beides nicht zur Anwendung kommt, fliesst der Zucker ungenutzt durchs Blut und sollte mit Hilfe von Insulin wieder in den Zellen eingelagert werden.
Ein ähnlicher Mechanismus läuft auch bei chronischen Schmerzen ab. Patienten mit rheumatischen Beschwerden oder chronischen Schmerzen anderer Ursache sind einer Art Dauerstress ausgesetzt. Die ständig erhöhten Spiegel von Stresshormonen führen nicht nur dazu, dass mehr Zucker in der Leber produziert wird, sondern machen den ganzen Körper auch unempfindlicher für Insulin. Diese sogenannte Insulinresistenz ist einer der Hauptgründe für die Entstehung eines Diabetes mellitus Typ 2. Sie kann aber auch den Insulinbedarf bei einem bereits bestehenden Diabetes deutlich erhöhen. Das kann dazu führen, dass Patienten, die bereits Insulin spritzen, ihre Dosis steigern müssen, oder dass Patienten, die bisher ihren Zucker mit Tabletten kontrollieren konnten, anfangen müssen, Insulin zu spritzen. Wenn man diesen Effekt nicht kennt, sind die plötzlich deutlich höheren Blutzuckerwerte oft eine böse Überraschung.
Im Gegensatz zum Anstieg des Insulinbedarfs bei Stress dauert die Veränderung bei Patienten mit chronischen Schmerzen aber viel länger; bei ihnen muss die Insulindosis auch langfristig angepasst werden. Wenn die Schmerzen wieder nachlassen, sinkt aber meist auch der Insulinbedarf wieder, und die Dosis muss wieder gesenkt werden.
Wenn eine chronische Entzündung, beispielsweise eine Kniegelenksarthrose, mit Cortison behandelt wird, prallen zwei Wirkungen aufeinander. Das Cortison selbst ist ein Stresshormon und führt als solches zu einer Zunahme des Insulinbedarfs. Gleichzeitig führt es aber zu einem Nachlassen der Entzündung und reduziert die Schmerzen. Dies kann zu einem Rückgang des Insulinbedarfs führen, sodass manchmal bei einer Cortisoninjektion die Blutzuckerwerte sogar trotz gleicher Insulindosis besser sind als vorher. In den meisten Fällen überwiegt aber der zuckersteigernde Effekt des Cortisons, und die Insulindosis muss gesteigert werden, solange die Wirkung des Cortisons anhält.
Das Problem an dieser Art Veränderungen des Blutzuckers ist also, dass ihr Ausmass oft sehr schwierig vorauszusagen ist. Einzige mögliche Lösung ist, den Blutzucker oft zu messen und die Therapie immer wieder an den aktuellen Bedarf anzupassen.

AutorIn: Dr. med. Dirk Kappeler