«In letzter Zeit habe ich ab und zu bohrende Schmerzen auf der Aussenseite meines rechten Unterschenkels bekommen» berichtet die 49jährige Frau U., Typ-1-Diabetikerin seit 15 Jahren. «Und das Eigenartige daran ist, dass ich dann jedes Mal einen tiefen Blutzucker gemessen habe. Kann es sein, dass diese Schmerzen bei mir das erste Symptom einer Hypoglykämie sind? Das ist doch schon sehr seltsam.»
Tatsächlich ist es sehr ausgefallen, dass streng lokalisierte Beinschmerzen eine Unterzuckerung anzeigen. Die Fantasie der Natur ist aber fast grenzenlos. Und eine Hypoglykämie kann sich – im Einzelfall – durch wirklich ungewöhnliche Symptome ankündigen. Wir können deren Vielfalt nicht bis ins letzte Detail erklären.
Zum Glück gibt es aber doch bei vielen Betroffenen ein paar Konstanten. Oft treten anfänglich «klassische» Symptome auf. Man bezeichnet sie in der Fachsprache als autonome Symptome, weil sie durch eine Aktivierung des autonomen Nervensystems ausgelöst werden. Auch Hormone (Adrenalin, Glukagon, Wachstumshormon, Cortisol), welche als Gegenspieler des Insulins die Leber zur Ausschüttung vorhandener Glykogenreserven und zur Neubildung von Glukose anregen, tragen ihren Teil bei zur Erkennung von tiefen Blutzuckerwerten. Es wird also alles angerichtet zur – erfolgreichen – Bekämpfung der Hypoglykämien.
Das autonome Nervensystem
Eine Auswahl der autonomen Symptome ist in Tabelle 1 zusammengefasst. Selbstverständlich stellen Sie dabei fest, dass diese Symptome keineswegs spezifisch sind, also in jedem Fall eine Unterzuckerung anzeigen. Das Herzklopfen vor einer Prüfung, das Schwitzen vor einem Vortrag, die Nervosität vor einem sportlichen Wettkampf: Das hat mit einer Unterzuckerung doch nichts zu tun. Selbstverständlich haben alle Menschen, nicht nur Diabetesbetroffene, ein autonomes Nervensystem. Dieses hat viele Aufgaben zu erfüllen. Die Warnung vor Unterzuckerungen bei Diabetes ist nur eine davon. «Sympathikus» und «Parasympathikus», die beiden wichtigsten Teile des autonomen Nervensystems, ergänzen sich dabei im Sinne von Gegenspielern. Dadurch ermöglichen sie eine fein ausgewogene, nicht unserem Willen unterstellte (deshalb autonome!) Tätigkeit vieler Organe. Ohne, dass wir daran denken müssen, lassen sie die Lunge in ruhigem Rhythmus atmen. Sie verhelfen zu einem regelmässigen Herzschlag. Sie warnen vor einer vollen Harnblase. Und sie tun sehr vieles mehr. (Hypoglykämie Symptome)
Tabelle 1 - Hypoglykämie-Symptome
«autonome» Symptome
(durch Erregung des autonomen Nervensystems)
• Kribbeln
• Pelzigkeit um den Mund
• Schweissausbrüche
• Zittrigkeit
• Nervosität
• Herzklopfen
• Blässe
• Aggressivität
• Angst
• Heisshunger und viele mehr…
«neuroglukopenische» Symptome
(durch Glukosemangel im Gehirn)
• Konzentrationsstörungen
• Sehstörungen
• «Schlägli» oder andere neurologische Ausfälle
• Aggressivität
• «dummes» Verhalten
• Bewusstseinstrübung
• Bewusstlosigkeit
• Epileptischer Krampf
Wird das autonome Nervensystem nun angeregt, insbesondere der Sympathikus, der bei zahlreichen Stressreaktionen mitbeteiligt ist, können identische Symptome auftreten, wie sie Diabetesbetroffene auch bei Hypoglykämien erleben. Sind Herzklopfen und Zittern zum Beispiel nach einem längeren Sonnenbad oder einer durchzechten Nacht darauf zurückzuführen, dass der Blutdruck abgefallen ist, oder sind es doch Anzeichen einer Unterzuckerung? Ist der Schweissausbruch bedingt durch die erhöhte Spannung im Hinblick auf das bevorstehende Bewerbungsgespräch oder ist ausgerechnet jetzt – im dümmsten Moment – auch noch der Blutzucker abgefallen? Schwitzen ist, wie im Editorial “Sommerhitze – Schwitzen – Hypowahrnehmung” erwähnt, auch ein häufiger Begleiter, wenn man sich im Sommer gegen (zu) hohe Temperaturen wehren muss. Und während der Abänderung der Frauen sind zusätzlich noch Hormone für die «Schwitzerei» verantwortlich. Lang ist die Liste der Situationen, in denen die gut bekannten Symptome einer Hypoglykämie auch eine andere Ursache haben könnten. Diabetiker, die sich nicht sehr gut kennen, sollten im Zweifelsfall immer eine zusätzliche Blutzuckermessung durchführen.
Mal so, mal anders
Apropos Symptomenvielfalt: Gewisse Diabetesbetroffene berichten, dass sie durch Kopfschmerzen auf eine Hypoglykämie aufmerksam werden. Für andere sind Unterzuckerungen nie mit Kopfschmerzen verbunden. Wie tiefe Blutzuckerwerte Kopfschmerzen auslösen können, wissen wir nicht.
Um Unterzuckerungen wahrnehmen zu können, dürfen auch nicht alle «Antennen» bereits besetzt sein. Wir erinnern uns an den 54jährigen Typ-1-Diabetiker, einen Unternehmer, der nach einem für sein Geschäft äusserst belastenden Telefongespräch an seinem Pult sitzend bewusstlos wurde, weil er für die Zeichen einer drohenden Hypoglykämie nicht mehr empfänglich war. Über glühende Kohlen kann man ja auch gehen, ohne Schmerz zu empfinden, wenn man genügend abgelenkt ist …
Im korrekten Wortsinn zu wenig wachsam sind zahlreiche Diabetesbetroffene im Halbschlaf, wenn sie noch nicht bzw. nicht mehr richtig wach sind. So können viele in den frühen Morgenstunden beim Erwachen schlecht unterscheiden zwischen Halbschlaf und Müdigkeit, ausgelöst durch eine Unterzuckerung. Müdigkeit als Hypoglykämie-Symptom kann auch gut verpasst werden vor dem Fernseher, insbesondere im Anschluss an vorausgegangene Aktivität, z. B. nach Gartenarbeit. Schlafe ich auf dem Sofa ein, weil ich mich entspannen kann, weil die gewählte Sendung langweilig ist, oder weil eine Unterzuckerung aufgetreten ist? Überzufällig oft werden Hypoglykämien auf dem Sofa bzw. vor dem Fernseher nicht korrekt erkannt.
Verminderte Hypoglykämie-Wahrnehmung
Und schliesslich gibt es noch die leider nicht kleine Gruppe von Diabetikern, die trotz freier Antennen Hypoglykämien nur (noch) schlecht oder gar nicht mehr erkennen können. Sie leiden darunter, dass die Signale, die der Körper auszusenden vermag, immer schwächer werden oder ganz ausbleiben. Risikofaktoren für diese höchst unerwünschte Entwicklung sind in der Tabelle 2 zusammengefasst. Immerhin ist ein Teil dieser Faktoren veränderbar. So zum Beispiel die zu scharfe Stoffwechselkontrolle, die wohl häufigste Ursache für eine Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörung. Je häufiger tiefe Blutzuckerwerte auftreten, desto eher tritt eine Gewöhnung an diese Werte ein. Werden Hypoglykämien während einiger Wochen konsequent vermieden, normalisiert sich erfreulicherweise die Wahrnehmung von Unterzuckerungen wieder. (Hypoglykaemie Risikofaktoren)
Tabelle 2 - Risikofaktoren für eine verminderte Hypoglykämie-Wahrnehmung
Veränderbar
• (zu) scharfe Stoffwechselkontrolle
• chronisch zu hohe Insulindosen (Überinsulinisierung)
• gewisse Medikamente, Stress, Alkohol, Müdigkeit, Schlaf
• (wiederholte) schwere Unterzuckerungen
• Insulinwechsel
Nicht veränderbar
• Lange Diabetesdauer
• Autonome Neuropathie
• Defekt der (hormonellen) Gegenregulation
Vor Jahren hat eine hitzige Debatte darüber stattgefunden, ob der Wechsel von tierischem zu humanem Insulin die Symptome einer Hypoglykämie dämpfen oder sogar ganz auslöschen kann. Man weiss heute, dass grundsätzlich jeder Insulinwechsel die Hypo-Symptomatik zu verändern mag. Besonders sensible Betroffene berichten sogar, aufgrund der Symptome unterscheiden zu können zwischen einzelnen Insulinpräparaten.
Die Hypoglykämie-Wahrnehmung ist eine delikate Geschichte: mal so, mal anders, mal gar nicht! Bleiben Sie auf der Hut! Was heute gilt, kann sich morgen verändern.
P.S.: Die Hypo-Problematik betrifft selbstverständlich nur Diabetiker, die mit Insulin behandelt sind und eventuell mit Sulfonylharnstoffen und Gliniden. Alle anderen Antidiabetika können keine bedeutsamen Unterzuckerungen verursachen.