Das Wichtigste vorweg:
- Das HbA1c spiegelt die durchschnittlichen Blutzuckerwerte der letzten 90 Tage wieder.
- Die Messung des HbA1c hilft, das Risiko für die Entwicklung von diabetischen Spätschäden abzuschätzen.
- Das HbA1c gibt Auskunft über die Häufigkeit lange anhaltender Hyperglykämien.
- Das HbA1c kann keine Aussage über die Häufigkeit von Hypoglykämien machen.
- Neben dem HbA1c sind andere Messungen, welche die Häufigkeit und Dauer von Hypoglykämien und Hyperglykämien sowie die Zeit des Blutzuckers im Zielbereich darstellen, notwendig, um ein ganzheitliches Bild der Qualität der Blutzuckereinstellung zu erhalten.
Gut zu wissen:
Die Messung des HbA1c hat nach wie vor einen hohen Stellenwert in der Abschätzung des Risikos für diabetische Spätfolgen. Als alleiniger Marker zur Beurteilung der Blutzuckereinstellung ist das Glykohämoglobin aber nicht ausreichend. Wichtige Aspekte der Blutzuckereinstellung können durch das HbA1c nicht erfasst werden. Betroffene können deshalb weiterhin einem erhöhten Risiko für die Entwicklung von Akut- und Langzeitschäden ausgesetzt sein. Um die Blutzuckereinstellung wirklich aussagekräftig beurteilen zu können, ist es unverzichtbar, auch Häufigkeit und Schwere von Unter- und Überzuckerungen wie auch die Zeitdauer im Blutzucker-Zielbereich zu kennen.
Einleitung:
Die meisten Diabetesbetroffenen sind in regelmässiger klinischer Kontrolle. Hierbei liegt das Hauptaugenmerk oft auf der Messung des Anteils an verzuckertem rotem Blutfarbstoff – besser bekannt als «HbA1c». Dieser Wert spiegelt die durchschnittliche Höhe der Blutzuckerwerte während der vergangenen zwei bis drei Monate wider und damit in den Augen vieler Diabetes-Patienten und ihrer behandelnden Ärzte auch die «Qualität» der Blutzuckereinstellung. Dies ist allerdings nur bedingt richtig. Zwar steht das HbA1c in direktem Zusammenhang mit der Entwicklung Diabetes-spezifischer Folgeschäden. Seine Bestimmung hat indes eine wesentlich geringere Bedeutung bei der Beurteilung der Blutzuckerkontrolle als angenommen und kann nicht als Garant für eine «gute Zuckereinstellung» angesehen werden.
Leopold ist 63 Jahre alt. Im Alter von 24 Jahren wurde bei ihm ein Diabetes mellitus Typ 1 festgestellt, was einen massiven Einschnitt in sein bisheriges Leben bedeutete. Vieles hat sich seitdem getan. Die Blutzuckermessgeräte wurden kleiner, schneller und intelligenter, das Insulin rascher wirksam, und das Wissen um «Diabetes-gerechte» Lebensumstände wuchs bei ihm und den ihn behandelnden Ärzten. Geblieben ist die dreimonatliche Bestimmung des «HbA1c»-Wertes, der ihm ein Mass für die «Güte» seiner Blutzuckereinstellung gibt.
Heute ist es wieder so weit: Leopold lässt sich bei seinem behandelnden Arzt sein HbA1c bestimmen. Mit 6,3 % zeigt sich ein fabelhaftes Resultat. Sein Arzt ist «mehr als zufrieden» und «Änderungen in der Therapie seien damit keine notwendig». Leopold freut sich, wenngleich er ein wenig verunsichert darüber ist, dass er in den letzten sechs Monaten immer öfter Unterzuckerungen erlitten hat. Angesichts der guten Langzeiteinstellung, von der er weiss, dass sie Spätfolgen verhindern und verlangsamen kann, verzichtet Leopold aber darauf, die Unterzuckerungen mit seinem Arzt zu besprechen.
Das Hba1c widerspiegelt den durchschnittlichen Blutzucker
Szenen wie diese können sich im Leben vieler Diabetesbetroffenen des Öfteren abspielen. Das «HbA1c» – die Kurzform für glykiertes (verzuckertes) Hämoglobin (roter Blutfarbstoff) an der Stelle A1c (einem bestimmten Ort des roten Blutfarbstoffes) – gibt Auskunft über die durchschnittliche Höhe der Blutzuckerwerte der letzten ca. 90 Tage. Solange nämlich lebt eine rote Blutzelle, welche das Hämoglobin enthält und für die rote Farbe menschlichen Blutes verantwortlich ist. Rote Blutzellen haben die Aufgabe, Sauerstoff von unseren Lungen in alle Teile des Körpers zu tragen. Sie ernähren sich dabei von dem um sie herumschwimmenden Blutzucker. Ihr «Essverhalten» gleicht dem eines Hundes – je mehr da ist, desto mehr wird verspeist. Ein Grossteil des Zuckers wird für die Aufrechterhaltung der Zellfunktionen verbrannt. Ein kleiner Teil allerdings verbindet sich automatisch mit den Bauteilen des roten Blutfarbstoffes.
Je höher die Zuckerkonzentration im Blut, desto mehr roter Blutfarbstoff wird verzuckert.
Je höher die Zuckerkonzentration im Blut, desto mehr roter Blutfarbstoff wird verzuckert. Bei gesunden Personen sind etwa 4 – 5 % des Hämoglobins verzuckert. Im Falle einer diabetischen Stoffwechsellage steigt dieser Prozentsatz deutlich an, insbesondere bei wiederholt erhöhten Blutzuckerwerten. So kann das HbA1c bei der Neudiagnose eines bislang unbekannten Diabetes mellitus durchaus über 10 % liegen, was durchschnittlichen Blutzuckerwerten über 13 mmol/l in den letzten 90 Tagen entspricht.
Diabetesbedingte Schäden, insbesondere an Nieren, Augen, Nerven und Blutgefässen, sind als Langzeitfolge einer mässigen bis schlechten Blutzuckereinstellung gut bekannt. Viele dieser Spätfolgen können die Lebensqualität und die Lebenserwartung von Menschen mit Diabetes massiv einschränken. In grossen Studien konnte gezeigt werden, dass Menschen mit höherem HbA1c deutlich öfter an Spätfolgen erkranken. Das HbA1c hat sich deshalb zu einem «Qualitätskriterium» einer guten Blutzuckereinstellung entwickelt. Zwar bedeutet ein hohes HbA1c tatsächlich ein erhöhtes Risiko, an Spätfolgen zu erkranken, allerdings gibt es andere, für den täglichen Umgang mit der Erkrankung wichtigere Aspekte der Blutzuckerkontrolle, welche bei der reinen Bestimmung des HbA1c nicht erfasst werden.
Blutzuckerschwankungen sind auch bei «gutem» HbA1c möglich
Eine Forschungsarbeit aus dem Jahr 2011 hat sich näher mit den Vor- und Nachteilen des HbA1c befasst: Es konnte gezeigt werden, dass die Bestimmung des HbA1c eine genauere Abschätzung dauerhaft zu hoher Blutzuckerwerte zulässt als die Durchführung eines Glukose-Toleranz-Tests oder die Bestimmung des Nüchtern-Blutzuckers aus der Fingerbeere. Zur Messung des HbA1c ist es auch nicht nötig, nüchtern zu sein. Das HbA1c ändert sich wesentlich langsamer als der Nüchtern-Blutzucker und unterliegt damit weniger Schwankungen.
Die tatsächliche Qualität der Diabetes-Einstellung ergibt sich aus der Kontrolle der Blutzuckerwerte.
Auf der anderen Seite ist ein hohes HbA1c nur Ausdruck der «Verzuckerung» des Hämoglobins. Die tatsächliche Qualität der Diabetes-Einstellung ergibt sich aber aus der Kontrolle der Blutzuckerwerte. Bislang ist nicht genau bekannt, wie lange hohe Blutzuckerwerte bestehen müssen, bevor das HbA1c ansteigt. Das HbA1c lässt keine Rückschlüsse zu auf die Funktion der Bauchspeicheldrüse. Akute Hyperglykämien können nicht erfasst werden. Darin ist das HbA1c dem Glukose-Toleranz-Test sowie der Messung des Blutzuckers aus der Fingerbeere unterlegen.
Der wichtigste Nachteil der Messung des Glykohämoglobins ist aber, dass weder Ausmass noch Dauer der Blutzuckerschwankungen erkannt werden. Sogar massive Blutzuckerschwankungen können durch ein «gutes» HbA1c maskiert werden. Wenn viele hohe Blutzuckerwerte durch häufige Hypoglykämien aufgewogen werden, ändert sich das HbA1c als Mittelwert des Blutzuckers kaum.
So steht zwar ein HbA1c von 6,5 % für einen mittleren Blutzucker von 7,2 mmol/l. Dieser Mittelwert kann aber auch mit Schwankungen zwischen 2 bis 18 mmol/l erreicht werden. Das HbA1c liefert über diese ungesunden Schwankungen keine Information. Studien haben gezeigt, dass das HbA1c nur etwa 11 % des Risikos für Spätfolgen erklärt. Die restlichen 89 % sind bedingt durch Häufigkeit, Ausmass und Dauer der Blutzuckerschwankungen.
Der Blutzucker sollte möglichst lange im Zielbereich liegen
Die Messung des HbA1c ist weit verbreitet und ein brauchbarer Standard in der Beurteilung der Blutzuckereinstellung. Für eine ganzheitliche Beurteilung der Qualität der Stoffwechselkontrolle sind aber weitere Informationen nötig. Ein Expertengremium hat im Dezember 2017 folgende Empfehlungen gemacht:
Zusätzlich zum HbA1c sollten Häufigkeit und Schwere von Hypoglykämien (definiert als Blutzuckerwerte <3,9 mmol/l) bekannt sein. Hypoglykämien können durch Verlust der Handlungsfähigkeit bis hin zur Bewusstlosigkeit potentiell gefährlich sein. Zudem verschlechtern häufige Hypoglykämien sowohl die emotionale Gesundheit der Betroffenen als auch deren Lebensqualität. Hypoglykämien können mittels häufiger Blutzuckermessungen oder durch kontinuierliches Glukose-Monitoring erfasst werden. Beide Methoden sollten eingesetzt werden.
Hyperglykämien bestimmen die Höhe des HbA1c massgeblich, wenn sie lange andauernd auftreten. Studien haben gezeigt, dass die Blutzuckerwerte von Patienten mit Typ-1-Diabetes durchschnittlich 7 Stunden täglich im hyperglykämen Bereich (>10.0 mmol/L) liegen. Akut erhöhte Blutzuckerwerte sind in ihrer Bedeutung zwar noch weniger gut erforscht. Ihr Auftreten ist indes mit einem schlechteren Überleben nach Herzinfarkt und/oder Schlaganfall verknüpft. Auch gibt es Hinweise, dass akute Hyperglykämien der Netzhaut schaden können, auch wenn sie sich nicht in erhöhten HbA1c-Werten niederschlagen. Auch zur Erfassung erhöhter Blutzuckerwerte sollten sowohl «klassische» Blutzuckermessungen als auch das kontinuierliche Glukose-Monitoring eingesetzt werden. «Idealerweise» sollten die Blutzuckerwerte vor dem Essen um 6 mmol/l und etwa zwei Stunden nach dem Essen 8 mmol/l nicht überschreiten. Dies würde ein HbA1c von etwa 6,5% bedeuten.
Ein besonders wichtiges Kriterium einer guten Blutzuckerkontrolle ist die Zeitdauer (in Stunden), während der die Blutzuckerwerte innerhalb des sogenannten Zielbereiches liegen. Dieser muss individuell festgelegt werden. Dabei sollten die persönlichen Fähigkeiten, die Motivation und die Lebensumstände der Betroffenen mitberücksichtigt werden. Als Orientierungshilfe hat die Expertengruppe einen Zielbereich von 3,9 – 10,0 mmol/l als erstrebenswert definiert. Die «Zeit im Zielbereich» gibt auch eine gewisse – indirekte – Auskunft, wie häufig und in welchem zeitlichen Ausmass Hypo- oder Hyperglykämien auftreten.
Studien haben ergeben, dass die «Zeit im Zielbereich» gut mit der Lebensqualität der Diabetiker verknüpft ist.
Studien haben ergeben, dass die «Zeit im Zielbereich» besser mit der Lebensqualität der Diabetiker verknüpft ist und die Effekte von Therapieanpassungen schneller und genauer widerspiegeln kann als das HbA1c.
Der altbekannte Leitspruch «Je niedriger das HbA1c desto besser» ist aufgrund des heutigen Wissens also zu revidieren und muss einer umfassenderen Beurteilung der Blutzuckereinstellung weichen. Zwar kann das HbA1c dienen, die generelle Höhe der Blutzuckerwerte bzw. die Langzeiteffekte einer Therapieanpassung abzuschätzen. Es gibt aber keine Auskunft über rasche, akute Änderungen der Blutzuckerkontrolle, über tageszeitliche Schwankungen, über die Zeit im Zielbereich oder über die Lebensqualität. Hierzu sind häufigere Messungen des Blutzuckers aus der Fingerbeere sowie der Einsatz des kontinuierlichen Glukose-Monitorings notwendig.
Resümee:
Das HbA1c behält seine Berechtigung als Langzeit-Wert der Blutglukose und zur Abschätzung des Risikos, an Spätfolgen zu erkranken, nach wie vor. Dennoch wurde anhand vieler Studien in den letzten Jahren gezeigt, dass es nicht genügt, die Qualität der Blutzuckereinstellung alleine anhand des Mittelwerts der letzten 3 Monate zu beurteilen.
Die Häufigkeit und Schwere von Hypoglykämien, akut erhöhte Blutzuckerwerte, und die Zeit im Zielbereich können in Kombination mit dem HbA1c ein ganzheitliches Bild der Blutzuckereinstellung vermitteln. Dadurch kann die Lebensqualität der Diabetesbetroffenen und ihre Gesundheit auch auf lange Sicht verbessert werden.