Labor Chemikalien

Ist es möglich, dass die weltweit starke Zunahme von Diabetes durch Umweltchemikalien mitverur­sacht wird? Diese Frage wird immer wieder gestellt, wenn es um die Ursachen für den rapiden Anstieg der Zuckerkrankheit und ihrer Vorstufen geht.

Insbesondere sogenannte Stoffe mit hormonähnlicher Wirkung (sogenannte endokrine Disruptoren, abgekürzt EDC’s) wie z. B. das Bisphenol A, bestimmte Pestizide oder Weichmacher in Plastikmaterialien werden vermehrt mit Erkrankungen wie Diabetes in Verbindung gebracht. Eine kürzlich veröffentlichte wissenschaftliche Übersichtsarbeit aus den USA kam zum Schluss, dass EDC’s insbesondere bei sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen zum Diabetesrisiko beitragen könnten, da diese eine erhöhte Exposition von vielen schädlichen Substanzen hätten.
Wie lässt sich also das mögliche Risiko von bestimmten Chemikaliengruppen wie den EDC’s abschätzen und in seiner Bedeutung mit den bekannten Risikofaktoren vergleichen?

Bekannte Hauptrisikofaktoren für Diabetes Typ 2
Diabetes beruht zu einem grossen Teil auf familiärer Veranlagung, sowohl in Bezug auf die ethnische Zugehörigkeit als auch auf die Familiengeschichte. Weitere wichtige Risikofaktoren sind Übergewicht, Alter, schlechte Ernährung, Bewegungsmangel und Stress.
Eine systematische Zusammenstellung von 86 Studien hat vor einigen Monaten folgende wesentlichen und bekannten Risikofaktoren für Typ-2-Dia­betes bestätigt (siehe Tabelle).
Gemäss einer weiteren wissenschaftlichen Untersuchung ist eine gute Erreichbarkeit von städtischen Grünflächen mit einem geringeren Risiko für Typ-2-Diabetes verbunden, während ein erhöhter Lärmpegel und Luftverschmutzung ein höheres Risiko bedeuten.

Bekannte Hauptrisikofaktoren für ­Diabetes Typ 2

  • Übergewicht (Adipositas)
  • geringer Hüftumfang (im Verhältnis zum Taillenumfang)
  • im Blut erhöhter Gehalt an Alanin-Aminotransferase, Gamma-Glutamyl-Transferase, Harnsäure und C-reaktivem Protein bei verringertem Adiponektin und Vitamin D
  • ein ungesundes Ernährungsmuster (erhöhte Zufuhr von verarbeitetem Fleisch und Zucker, gesüssten Getränken, verminderte Aufnahme von Vollkornprodukten, Kaffee und Eisen)
  • niedriges Bildungsniveau und geringes Krankheitsverständnis
  • verminderte körperliche Aktivität, vorwiegend sitzende Zeit, lange Dauer des täglichen Fernsehkonsums
  • Alkoholkonsum
  • Rauchen
  • Luftverschmutzung
  • hoher Blutdruck
  • später Eintritt der Regelblutung bei den Frauen
  • durchgemachter Schwangerschaftsdiabetes
  • Frühgeburt

Entwicklungsrisikofaktoren
Mangelernährung im frühen Leben kann auch ein wichtiger Risikofaktor für Typ-2-Diabete sein. Zum Beispiel wird ein ungeborenes Kind, das Hungersnot erlebt, metabolisch «umprogrammiert», sodass die Nahrungsverwertung im Erwachsenenalter maximiert wird. Dies ist nützlich, wenn die Hungersnot anhält. Aber wenn Nahrung später reichlich vorhanden ist, führt dies zu übermässiger Gewichtszunahme und Diabetes.
Sowohl niedriges als auch hohes Geburtsgewicht scheinen zusätzliche Risikofaktoren für Diabetes zu sein. Es wird vermutet, dass diese «Progammierung» bereits vor Geburt im Mutterleib stattfindet, denn mütterlicher Diabetes ist auch ein Risikofaktor.

Umweltchemikalien als Risikofaktoren
Es gibt eine Vielzahl von wissenschaftlichen Untersuchungen, die sich mit dem Thema Umweltchemikalien und Diabetes beschäftigen. Um hieraus Schlüsse ziehen zu können, bedienen sich Wissenschaftler zunehmend der Methode von sogenannten systematischen Übersichtsarbeiten und Meta-Analysen. Solche Verfahren werden mittlerweile routinemässig in der Medizin eingesetzt, z. B. bei der Beurteilung der Wirksamkeit unterschiedlicher Therapien. Im Bereich der Umweltwissenschaften ist diese Methodik noch nicht so weit verbreitet. Viele der vorhandenen Übersichtsarbeiten erfüllen die strengen Vorgaben noch nicht, die sonst in der Medizin üblich sind. Dies bedeutet nicht, dass die Schlussfolgerungen falsch sind, man muss nur bei der Beurteilung der Resultate vorsichtig sein und die Ergebnisse kritisch hinterfragen.
Wie ist es also um die Datenlage zur Verbindung von Diabetes mit Exposition durch Umweltchemikalien bestellt? Hier lohnt es sich, die Daten für Diethylstilbestrol (DES), dem einzigen universell anerkannte EDC beim Menschen, genauer anzuschauen, da man dadurch Rückschlüsse auf den Effekt von anderen Stoffen ziehen kann. DES ist ein Wirkstoff, der von den späten 1940er Jahren bis 1971 zum Beispiel zur Verhinderung von Schwangerschaftskomplikationen verschrieben wurde.
Man weiss also über die Folgen von DES bei rund 4 Millionen Frauen weltweit recht genau Bescheid, im Gegensatz zur Vielzahl anderer Stoffe, die oft mit Diabetes in Verbindung gebracht werden. Die Einnahme von DES konnte mit Fehlbildungen der Fortpflanzungsorgane, unerwünschten Schwangerschaften, Krebs, Unfruchtbarkeit und früherer Menopause in Verbindung gebracht werden. DES wurde ausserdem jahrelang als Wachstumsförderer in der Tierproduktion eingesetzt. Einige Untersuchungen an Tieren deuten darauf hin, dass eine Exposition mit DES vor der Geburt mit Fettleibigkeit und Stoffwechselstörungen verbunden ist. Der Effekt beim Mensch ist aber offenbar viel kleiner: So berichtete kürzlich eine Studie, die den Zusammenhang zwischen DES und Adipositas bei erwachsenen Frauen untersuchte, die vor der Geburt dieser Substanz ausgesetzt worden waren: DES-exponierte Frauen nehmen im Schnitt geringfügig stärker an Gewicht zu als nicht exponierte Frauen (mittlere Differenz 700 g). Dies deutet darauf hin, dass eine vorgeburtliche DES-Exposition mit einem geringen Anstieg des Übergewichtes im Erwachsenenalter verknüpft ist.
Andere Umweltchemikalien, die auch in Verbindung mit Stoffwechselstörungen gebracht worden, sind z. B. Arsen, persistente organische Schadstoffe (POPs), Quecksilber, Phthalate (Weichmacher), und Bisphenol A (siehe Kasten).
Die Autoren einer systematischen Übersichtsarbeit von 29 neuen Studien kamen zum Schluss, dass es zwar Hinweise gibt, dass beim Menschen eine Beziehung zwischen Diabetes und Arsen sowie persis­tenten organischen Schadstoffen (POPs) bestehen könnte. Ein Zusammenhang zwischen Quecksilber, Phthalaten und Bisphenol A und dem Diabetes konnten diese Autoren aber nicht mit ausreichender Sicherheit nachweisen.
POPs sind seit den 1970er Jahren weitgehend verboten, aber kleine Mengen finden sich immer noch im Körperfett, bedingt durch frühere Exposition oder Aufnahme von belasteten Lebensmitteln.
Phthalate und Bisphenol A verbleiben nach Einnahme nicht im Körper, werden also ausgeschieden. Resultate aus Tier- und Zellkulturstudien erhärten aber schon den Verdacht, dass diese Substanzen bei Entstehung von Übergewicht und Diabetes eine Rolle spielen könnten. Ein fundamentales Problem ist, dass oft wenig über die Dauer und das Ausmass der Exposition bekannt ist, da die meisten dieser Stoffe – wie erwähnt – rasch verstoffwechselt und ausgeschieden werden.

Was kann ich tun, um mein Diabetesrisiko zu reduzieren?
Gewichtskontrolle, ausgewogene Ernährung und genug körperliche Bewegung sind die wichtigsten Faktoren, die das Diabetesrisiko reduzieren können. Die Auswirkungen von Umweltchemikalien sind von grossem wissenschaftlichen Interesse, scheinen jedoch nach bisherigem Erkenntnisstand im Vergleich zu den bekannten Risikofaktoren eine untergeordnete Bedeutung zu haben.

Begriffserklärungen

Persistente (langlebige) organische Schadstoffe (aus dem englischen «persistent organic pollutants» oder «POPs») sind chemische Verbindungen, die in der Umwelt und im menschlichen Körper nur langsam abgebaut werden. Beispiele sind chlorhaltige Pestizide der «ersten Generation» wie Chlordan, DDT, oder Dieldrin, einige industriell hergestellte Chemikalien (z. B. polychlorierte Biphenyle, PCB) sowie Nebenprodukte von Herstellungs- und Verbrennungsprozessen (z. B. Dioxine), und bromierte Flammschutzmittel. Viele POPs sind durch internationale Übereinkünfte wie die völkerrechtlich bindende Stockholmer Konvention reguliert und seit vielen Jahren in Europa verboten.

Phthalate werden vor allem als «Weichmacher» in Kunststoffen eingesetzt. Mehr als 90 % gehen in die Produktion von Weich-PVC. Sie werden universell verwendet z. B. in Kabeln, Folien, Fussbodenbelägen, Schläuchen, Tapeten, Sport- und Freizeitartikeln. In manchen Produkten wie in Spielzeug, Babyartikeln, Kosmetika oder Lebensmittelverpackungen ist der Einsatz einiger Phthalate verboten.

Bisphenol A ist ein wichtiger Ausgangsstoff für die Herstellung von zahlreichen Kunststoffen wie Poly­carbonaten und Epoxidharzen. Polycarbonate werden in der DVD-Produktion benutzt, aber auch für Gebrauchsgegenstände wie Trinkflaschen oder Geschirrteile, die mit Lebensmitteln in Kontakt kommen. Epoxidharze werden als Innenbeschichtung von Getränke- und Konservendosen verwendet. Aus Polycarbonat und Epoxidharzen können geringe Mengen von Bisphenol A freigesetzt werden. Die Verwendung von Bisphenol A bei der Herstellung von Babyflaschen ist in der EU seit 2011 verboten.