Messband um Bauch einer Frau. Übergewicht Diabetes

Seit dem Jahr 1889, als Oskar Minkowski und Josef von Mering an der Universitätsklinik Strassburg nachweisen konnten, dass Diabetes auf ein Versagen der Bauchspeicheldrüse zurückzuführen ist, hat man sich in der Medizin bis vor wenigen Jahren praktisch nur darauf konzentriert, wie man die ungenügende oder fehlende Insulinfreisetzung aus der Bauchspeicheldrüse und die oft nicht ausreichende Wirkung des Insulins im Körper möglichst gut behandeln kann. Dem Gehirn und dessen Funktion im Zuckerstoffwechsel und in der Entstehung des Übergewichtes hat man dabei wenig Beachtung zukommen lassen. Erst seit einigen Jahren beginnt man, seine Rolle in der Entstehung und im Verlauf des Typ-2-­Diabetes zu untersuchen.

Trennen wir zur Vereinfachung gedanklich das Gehirn vom restlichen Körper, finden wir auf der einen Seite die Bauchspeicheldrüse, den Darm und das Fettgewebe. Auf der anderen Seite der Trenn­linie ist das Gehirn. Beide Seiten regulieren gemeinsam den Blutzucker und den Glukosestoffwechsel.

Zusammenspiel Gehirn, Insulin und Glukosestoffwechsel
Die gegenseitigen Verbindungen zwischen Gehirn und dem restlichen Körper laufen über Botenstoffe (zum Beispiel Insulin), die im Blutkreislauf zirkulieren, und das Nervensystem.
So erhält das Gehirn zum einen Informationen über den aktuellen Blutzuckerstand durch eigene Nervenzellen, die die Blutzuckerkonzentration messen können. Zum anderen ist es das Hormon Insulin, das von der Bauchspeicheldrüse ins Blut abgegeben wird. Im Körper bewirkt Insulin, dass der Zucker aus dem Blut aufgenommen und verwertet wird. Das Gehirn selbst braucht im Gegensatz dazu kein Insulin für die Zuckeraufnahme aus dem Blut. Vielmehr löst Insulin im Gehirn eine Reihe von anderen wichtigen Steuerungsfunktionen aus, wie wir weiter unten sehen werden.
In umgekehrter Richtung nimmt das Gehirn mit anderen Hormonen und über die Nervenfasern, die von ihm ausgehen, Einfluss auf die Blutzuckerkonzentration. So kann das Gehirn nicht nur im Stress auf vielfältige Weise den Blutzucker anheben, sondern vor allem auch langfristig die Insulinwirkung regulieren.

Wo wirkt das Insulin im Gehirn?
Mittels spezieller Untersuchungen kann man an Versuchspersonen testen, wo und in welcher Weise Insulin die Hirntätigkeit beeinflusst. Um zu eindeutigen Ergebnissen zu gelangen, ist es wichtig, dass das zu diesen Versuchszwecken verab­reichte Insulin ausschliesslich ins Gehirn gelangt und nicht auch noch in den restlichen Körper. Darum erhalten diese Personen Insulin über einen Nasenspray. Insulin gelangt so direkt via Nasendach zum Gehirn. Spezielle Bildaufnahmen des Gehirns machen es möglich, diejenigen Areale zu erkennen, wo Insulin andockt und eine Reaktion des Gehirns auslöst.
So hat man herausgefunden, dass vor allem Hirnregionen mit so klangvollen Namen wie Hypocampus, präfrontaler Kortex, Gyrus fusiformis und Hypo­thalamus von Insulin gesteuert werden. All dies sind Bereiche im Hirn, die
– für die Gedächtnisbildung nötig sind,
– an der Regulierung der Nahrungsaufnahme und des Energiehaushalts im Körper beteiligt sind,
– die man als «Belohnungsareale» bezeichnet und in uns Gefühle von Glück und Befriedigung auslösen (zum Beispiel nach Genuss eines Stück feinen Kuchens oder nach einem Glas Wasser, wenn wir sehr durstig sind).

Welche Wirkungen hat das Insulin im Gehirn?
Heute sind drei wichtige Funktionen im Hirn bekannt, die durch Insulin beeinflusst werden:
1. Insulin führt bei Versuchspersonen zu einer Verbesserung der Gedächtnisleistung. Und zwar nicht nur bei gesunden Probanden, sondern auch bei Leuten, die an Gedächtnisschwäche (Demenz) oder an Typ-2-Diabetes leiden.
2. Insulin spielt im Gehirn eine wichtige Rolle bei der Regulation des Essverhaltens, der Kalorien­zufuhr und des Körpergewichts. So nahmen (männliche) Versuchspersonen nach der Insulingabe durch die Nase deutlich an Gewicht ab, in dem sie Fettdepots abbauten, rascher ein Sättigungsfühl hatten und dadurch auch weniger Kalorien zuführten. Auch die Riechfähigkeit wird durch Insulin deutlich vermindert, was einen zusätzlichen kalorienmässig günstigen Effekt auf das Essverhalten hat.
3. Insulin steuert über das Gehirn den Stoffwechsel. So wird nach Zufuhr von Insulin ins Gehirn im ganzen Körper die Insulinwirkung verstärkt, d. h. vermehrt Glukose aufgenommen und die Freisetzung von Glukose aus der Leber gehemmt. Ausserdem wird der gesamte Stoffwechsel auf vermehrten Energieverbrauch umgestellt. Auch der Bewegungsdrang und die Wärmeproduktion (Thermogenese) werden gesteigert.

Insulinresistenz im Gehirn
Über Insulinresistenz – also die verminderte oder fehlende Wirkung von Insulin – wurde und wird zur Zeit viel geschrieben. Auch wir haben in «d-journal» 248 (Okt./Nov. 2017) das Thema bereits besprochen. Auch im Gehirn kann sich eine Resis­tenz auf Insulin entwickeln. Gefährdet, eine Insulinresistenz zu entwickeln, sind vor allem ältere und übergewichtige Leute und Menschen, die dafür eine Veranlagung mit in die Wiege erhalten haben.
Die Auswirkungen einer verminderten Insulinwirkung – also einer Insulinresistenz – im Gehirn lassen sich aufgrund dessen, was bereits beschrieben worden ist, gut voraussagen. Sie konnten auch in wissenschaftlichen Untersuchungen bestätigt werden: Eine Insulinresistenz im Gehirn führt zu mehr Nahrungsaufnahme, reduziertem Bewegungsdrang, geringerem Energieverbrauch und verschlechterter Insulinwirkung im ganzen Körper. Damit werden eine Gewichtszunahme und ein hoher Blutzucker gefördert. Also genau das, was üblicherweise bei der Entstehung eines Typ-2-Diabetes wesentlich ist.

Auch der Darm und das Fettgewebe spielen mit
Aber nicht nur Insulin wird bei der Nahrungsaufnahme freigesetzt. Aus dem Darm werden gleichzeitig andere Botenstoffe (Hormone) ans Blut abgegeben, die ins Gehirn gelangen. Dies sind zum Beispiel «Glucagon-like Peptide 1» (abgekürzt GLP1) und «Fibroblast growth factor 21» (abgekürzt FGF21). Auch sie informieren Hirnareale, die für die Steuerung des Sättigungsgefühls massgebend sind, über den aktuellen Füllungszustand der Energiespeicher und über die Zusammensetzung und Menge der letzten Mahlzeit. Ausserdem lösen sie im Gehirn ein Sättigungsgefühl aus, was die weitere Nahrungsaufnahme resp. Kalorienzufuhr bremst.
Schlussendlich leisten auch die Fettzellen ihren Beitrag an die Steuerung des Zuckerstoffwechsels, indem sie das Hormon Leptin in den Blutkreislauf abgeben können. Leptin löst im Gehirn nicht nur ein Sättigungsfühl aus, sondern vermindert auch die Insulinresistenz und verbessert die Glukoseverwertung in den Körperzellen. Besteht im Gehirn eine Resistenz auf Leptin, resultieren eine vermehrte Nahrungszufuhr, eine Gewichtszunahme und damit ein erhöhtes Risiko für einen Typ-2-Diabetes.

Gehirn und Behandlung des Diabetes Typ 2
Inwieweit sind nun diese Erkenntnisse wichtig für die aktuelle und künftige Therapie des Diabetes Typ 2 (und des Übergewichtes)? Zweifellos kann man festhalten:
1. Von einer Gewichtsabnahme kann man nicht nur im Körper, sondern auch im Gehirn eine Abnahme der Insulinresistenz und damit eine Blutzuckersenkung erwarten.
2. Medikamente, von denen man bis anhin wusste, dass sie die Insulinresistenz im Körper vermindern, könnten auch im Gehirn die Insulinwirkung verbessern. Für Metformin (Glucophage®) wird das vermutet. Von den sogenannten Thia­zo­lidinpräparaten wie Pioglitazon (Actos®) weiss man allerdings, dass die Wirkung auf die Insulinresistenz im Gehirn nicht besonders ausgeprägt ist. In den kommenden Jahren dürften weitere Medikamente, die eine Verbesserung der Insulinwirkung im Gehirn ermöglichen, eine wichtige Rolle in Therapie (und Prävention) des Typ-2-Diabetes spielen.
3. Medikamente gegen Typ-2-Diabetes, die mit GLP1 chemisch verwandt sind (zum Beispiel Bydureon®, Lyxumia®, Ozempic®, Trulicity®, Victoza®), haben neben der zuckersenkenden auch eine dämpfende Wirkung auf die Nahrungszufuhr und leisten einen Beitrag zur ­Gewichtsreduktion.
4. Es gibt Insulinpräparate, die besser, und solche, die schlechter ins Gehirn gelangen. Von den Insulinen Detemir (Levemir®) und Aspart (Novo­Rapid®) ist bekannt, dass sie das Gehirn gut erreichen und wahrscheinlich deshalb die Gewichtsentwicklung und (bei Alzheimerdemenz) die Gedächtnisfunktion günstig beeinflussen. Aus diesen Erkenntnissen aber heute schon gesicherte Empfehlungen für die Insulintherapie bei Typ-2-Diabetes oder gar Demenz abzugeben, wäre sehr verfrüht.
5. Für eine Gewichtsabnahme sind medikamentöse Therapien naheliegend, die via Gehirn in den Energiehaushalt und den Glukosestoffwechsel eingreifen. Wir sind darauf bereits in «d-journal» 257 («Therapie des Übergewichtes – In Zukunft Tabletten statt Skalpell?») eingegangen. Übrigens scheint der in der chinesischen Medizin verwendete Pflanzenextrakt Celastrol die Wirkung des erwähnten Hormons Leptin im Gehirn zu verbessern. Auch dies könnte in kommenden Jahren ein Ansatzpunkt für die Entwicklung neuer Medikamente sein.

AutorIn: Dr. med. A. Spillmann