Von Lina Meruane, Aus dem Spanischen übersetzt von Susanne Lange, Deutsche Erstauflage 2018. Arche Verlag, Hamburg und Zürich. 208 Seiten. Gebunden. Auch als E-Book erhältlich, CHF 28.90. ISBN 978-3-03875-091-8.

Inhalt:
Lucina, genannt Lina, ist eine junge Diabetikerin. Sie arbeitet als Schriftstellerin in New York und führt ein weitgehend sorgloses Leben. Vom Diabetes sind ihre Augen schwer geschädigt, durchwachsen von leicht verletzlichen Adern. Als sie plötzlich von einer Sekunde auf die andere wegen einer Blutung in einem Auge gar nichts mehr, im anderen nur noch durch Nebel sehen kann, verändert sich ihr Leben völlig. Darauf ist sie nicht vorbereitet. Unerwartet ist sie jetzt in allem, was sie tut, auf fremde Hilfe angewiesen, muss sich tastend und suchend in ihrer Umwelt zurechtfinden. Ihr ganzes Leben wird auf den Kopf gestellt und ist einem Neuanfang gleichzusetzen. Bis anhin Selbstverständliches wird in Frage gestellt oder verunmöglicht. Wut und Verzweiflung machen sich breit. Als ihr Freund Ignacio für sie am Flughafen zur Vereinfachung des Boarding einen Rollstuhl organisiert, bricht für sie eine Welt zusammen. Ihre Wartezeit bis zur Augenoperation verbringt sie bei ihrer Familie in Chile. Bis anhin selbständig und auf Distanz zu ihren Eltern und Geschwistern lebend, fällt es ihr schwer, mit den gut gemeinten Ratschläge und der Fürsorge ihrer Mutter, die ihr nicht hilfreich sind, konfrontiert zu werden. Alte, tot geglaubte familiäre Konflikte flackern wieder auf. Erst spät realisiert sie, wie sehr sie auch ihrem Freund zur Last fällt. Und als die erste Operation an ihren Augen nicht den gewünschten Erfolg hat und ein Zweiteingriff nur wenig Besserung bringt, ist sie fast am Ende ihrer Kräfte: «Doktor», sagt sie zu ihrem Augenarzt, «ich bin nicht mehr als ein Tier, das keines mehr sein will…»

Die Autorin:
Lina Meruane, geboren 1970 in Santiago de Chile, ist Kulturjournalistin und Professorin für Allgemeine und Lateinamerikanische Literatur sowie Kreatives Schreiben an der New York University. Auch sie musste einige Zeit um ihr Augenlicht bangen. In diesem hier vorliegenden vierten Roman, «Sangre en el ojo», der seit Ersterscheinung 2012 in viele Sprachen übersetzt worden ist, hat sie Erlebnisse aus ihrem eigenen Leben verarbeitet.

Kommentar:
«Rot vor Augen» ist ein anspruchsvoller, nicht leicht zu lesender Roman. Viele Stellen muss man mehrfach durchgehen, um die tiefere Bedeutung des Textes zu verstehen. Das Buch ist nicht sentimental. Oft geht einem beim Lesen das Erleben dieser jungen Frau tief unter die Haut. Im Gesamten ist es ein grossartiger, an manchen Stellen aber auch vielschichtiger Roman, der Freunden der gehobenen modernen Literatur nur empfohlen werden kann.

AutorIn: Dr. med. A. Spillmann