Mann auf Balkon Leben mit Diabetes

Mann auf Balkon

Seit achtzig Jahren gehört der Diabetes zu Anton Lichtsteiners erfülltem Leben. Früh lernte er, zu sich selbst Sorge zu tragen. Das kommt ihm zweifellos auch im Alter zugute.

Es fällt Anton Lichtsteiner leicht, das Positive hervorzuheben. Eine Fähigkeit, die ihm wohl schon die Eltern mitgaben, indem sie den Buben als gesund wahrnahmen. Seinen frühen Diabetes integrierten sie gut ins Familienleben, nachdem sie selbst festgestellt hatten, dass etwas nicht stimmte, weil der Vierjährige unsäglichen Durst hatte und oft zur Toilette ging. Die Ärztin diagnostizierte Diabetes mellitus Typ 1, worauf der kleine Patient ans Zürcher Kantonsspital gebracht wurde, um mit der Insulintherapie und der Ernährungsumstellung zu beginnen. Das war vor achtzig Jahren, Anton Lichtsteiners Erinnerung ist gegenwärtig: «Es war für mich eine schreckliche Erfahrung, allein an einem fremden Ort zu sein, ohne zu begreifen, was mit mir geschah.» Zu Hause kümmerte sich die Mutter um den ärztlich verordneten Ernährungsplan und das Verabreichen des Insulins. Heimweh verspürte er immer dann, wenn er im Spital bleiben musste, etwa um die Insulindosis anzupassen oder einmal wegen Gelbsucht. Glücklicherweise wurden die Spitalerlebnisse unwichtig. «Ich hatte eine sehr gute Kindheit und Jugend», betont er. «Es gab natürlich den einen oder anderen kritischen Moment. Wenn ich zum Beispiel unterzuckert aus der Schule kam. Ich hatte stets Traubenzucker bei mir, doch vergass ab und zu, ihn rechtzeitig einzunehmen. Als Erwachsener passierte mir das nicht mehr.»

Dem 84-jährigen Anton Lichtsteiner ist es wichtig, darüber zu berichten, wie gut er seit achtzig Jahren mit Diabetes Typ 1 lebt.

Seine Ärztin, die Diabetologin Dr. Gudrun Neises, stellt fest: «Gründe für sein langes Leben mit Diabetes mellitus sind nebenmodernen Therapiemassnahmen auch die perfekte familiäre Unterstützung und das gute Selbstmanagement.» Die Besuchseinschränkungen während der Coronazeitverhinderten ein persönliches Interview der Redaktorin für das d-journal. Tochter Sandra Kuster anerbot, die Fragen mitdem Vater schriftlich zu beantworten. Es entstanden lebhafte Schilderungen für den nebenstehenden Text.

Zum Glück kein Turnen

Benachteiligt gefühlt habe er sich wegen des Diabetes nie, eher habe es Vorteile gegeben. «Ich wurde vom Turnunterricht dispensiert und war darüber glücklich», schmunzelt er. «Meine Lehrer und Schulkameraden waren mir gegenüber loyal, gehänselt wurde ich nie.» Es hiess damals, er dürfe sich nicht körperlich anstrengen, doch er selbst fühlte sich keineswegs schwächer als andere, wie später zahlreiche Fotos von anspruchsvollen Wanderungen und Reisen zeigen. Positiv sei auch gewesen, dass die Familie während der Lebensmittelrationierung im Zweiten Weltkrieg seinetwegen Extra-Märkli erhielt, um mehr Butter, Eier und Fleisch beziehen zu können als andere Leute. Als einzige Benachteiligung erwähnt Anton Lichtsteiner, dass er in den frühen Berufsjahren von der damals noch freiwilligen Pensionskasse aufgrund des Diabetes ausgeschlossen worden war. Er bezahlte in einen freiwilligen Fonds ein, um Geld für die zweite Säule zu sparen. Als die betrieblichen Pensionskassen obligatorisch wurden, konnte der Ingenieur HTL das Ersparte dort einbringen, weil sich ein Nachbar, der bei der Pensionskasse tätig war, für ihn eingesetzt hatte.

Wimbledon und dann die Welt

Nach der Lehre als Maschinenzeichner studierte Anton Lichtsteiner am Technikum Winterthur und war danach Konstrukteur bei einer Maschinenfirma in Horw am Vierwaldstättersee, bis ihm in Wimbledon ein Job angeboten wurde. Heidi, seine zukünftige Frau, reiste ihm nach und arbeitete in  London als Au-pair. Wimbledon stand am Beginn seiner faszinierenden Karriere, geprägt von Reisen durch die halbe Welt. Anton Lichtsteiner war als Verkaufsingenieur für die Bell Maschinenfabrik Kriens unterwegs in Europa, in Libyen, Iran, Irak, Indien, Thailand, Hongkong. Gab es für ihn als Diabetiker manchmal Komplikationen, wenn er im Ausland arbeitete? «Ich musste einfach auf das Essen achtgeben», antwortet er schlicht. «Zeitverschiebungen oder Temperaturschwankungen bereiteten mir kein Durcheinander. Den Blutzucker hatte ich stets unter Kontrolle, da ich ihn kontinuierlich mass. Selbstverständlich hatte ich immer ausreichend und gut gekühltes Insulin dabei, weshalb ich nie in einen Engpass geriet.»

Anton und Heidi Lichtsteiner sind seit bald sechzig Jahren verheiratet, wohnen in Kriens, am Fuss des Pilatus, haben eine Tochter, einen Sohn und zwei erwachsene Grosskinder. Die Familie ist für den Innerschweizer das Lebenszentrum. Auch in den Jahren, als er oft und wochenlang beruflich im Ausland unterwegs war, bedeutete die Familie seine sichere Basis, was ihm zweifellos den unbeschwerten Umgang mit dem Diabetes mitermöglichte. Manchmal war er sorgloser als seine Angehörigen: «Meine Frau und ich waren mit Sohn und Schwiegertochter in Jordanien in den Ferien. Einmal nächtigten wir in der Wüste unter freiem Himmel. Da ich seit vielen Jahren unter Apnoen leide, benötige ich nachts ein Gerät, das logischerweise mitten in der Wüste nicht an eine Steckdose angeschlossen werden konnte. Für mich war das kein Problem – für meine Familie jedoch schon. Weder das fehlende Gerät noch irgendwelche Schwankungen des Insulins plagten mich. Ich schlief wie ein Engel, während die Familie meinetwegen wach lag.»

Dankbar für die Unterstützung

Mit einer chronischen Krankheit umzugehen, habe ihn ganz bestimmt gestärkt, sagt der 84-Jährige. «Ich habe daraus gelernt, auf mich zu achten und mich gut zu organisieren, um alles Lebensnotwendige dabeizuhaben: Insulin, Traubenzucker, Würfelzucker.» Die Umstellung zum Glukosesensor habe sein Leben enorm vereinfacht. «Das Messen geht blitzschnell, die Daten werden gespeichert, sodass ich leicht zurückverfolgen kann, wie sich meine Blutzuckerwerte verhielten. Auch bezüglich Spritzen hat sich vieles vereinfacht. Früher musste ich das Insulin mit der Glasspritze aufziehen, heute benutze ich den Pen mit dem darin vorhandenen Insulin. Ich muss lediglich die richtigen Einheiten einstellen. » Mit zunehmendem Alter, mit gesundheitlichen Beschwerden und der Einnahme anderer Medikamente schwanke der Blutzuckerwert öfters. «Doch meine Frau schaut sehr gut zu mir und erkennt schnell, wenn etwas mit meinem Zucker nicht stimmt. Sie ist eine Expertin und unterstützt mich in jeder Situation. Dafür bin ich ihr sehr dankbar.»

Ganz wesentlich hilft ihm auch die medizinische Begleitung durch Dr. Gudrun Neises, wie er selbst betont. «Ich habe eine äusserst gute und einfühlsame Ärztin gefunden. Sie steht mir immer mit Rat und Tat zur Seite und lobt mich, weil ich den Zucker bestens unter Kontrolle habe. Es sei eine enorme Leistung, in meinem Alter noch so gut mit dem Diabetes umgehen zu können.»

In diesem Frühling, seit Beginn der Coronazeit, blieb das Paar zu Hause. «Für mich waren die Einschränkungen nichts Negatives», so Anton Lichtsteiner. «Da ich nicht mehr gut zu Fuss bin, war ich schon vor Corona nicht mehr allein unterwegs. Ich geniesse mit meiner Frau die ruhigen Momente und die Sonne auf dem Balkon mit den blühenden Blumen.» Ihre Tochter Sandra war während Wochen die einzige Besucherin und kaufte für die Eltern ein. Auch sie versuchte, den Kontakt zur Aussenwelt auf ein Minimum zu beschränken, zum Schutz ihrer Eltern. «Ich war sehr besorgt», sagt Sandra Kuster, «ob meine Eltern diese Zeit gut überstehen würden, hatte mein Vater doch in den letzten fünf Jahren zwei sehr schwere Lungenentzündungen. » Sohn Toni wohnt mit seiner Frau Nilva in Spanien, weshalb die ganze Familie glücklich über die Smartphones ist, mit denen inzwischen auch die Eltern telefonieren, Videos und Fotos austauschen können. Sobald sich alle sicherer fühlen, können auch wieder Familienausflüge in die Umgebung stattfinden. Als passionierter Hobbyfotograf wird Anton Lichtsteiner so manch schönen Moment mit der Kamera festhalten, worauf er sich bereits freut. Seine optimistische Lebenseinstellung und Zufriedenheit bedeuten der ganzen Familie viel.

AutorIn: Text: Pascale Gmür / Foto: Sandra Kuster