Die Forschung hat inzwischen gut belegt, dass Menschen mit Diabetes in vielen Bereichen von Stigmatisierung betroffen sind. Mögen auch wichtige Fragen noch offen sein, so kann das vorhandene Wissen doch von Betroffenen, ihren Organisationen und der Forschung zum Kampf gegen das Stigma eingesetzt werden.
Der Erfahrungen von Menschen mit Diabetes, aufgrund ihrer Erkrankung stigmatisiert und ungerechtfertigt ungleichbehandelt, also diskriminiert zu werden, wurde lange keine Aufmerksamkeit entgegengebracht. Diabetes wurde vielmehr als chronische Krankheit betrachtet, die im Gegensatz zu Krankheiten wie HIV/AIDS, Epilepsie, Fettleibigkeit oder psychischen Beeinträchtigungen weder Stigmatisierung noch Diskriminierung mit sich bringen würde. Es erstaunt also nicht, dass die Schweizerische Diabetesgesellschaft SDG noch 2008 feststellen musste, dass für die Schweiz aber auch international kaum gesichertes Wissen hinsichtlich Stigmatisierung und Diskriminierung von Menschen mit Diabetes vorlag. Doch dies sollte sich in den folgenden Jahren rasch ändern. Diabetes wahrnahmen und in welchen Situationen sie die Erfahrung machten, aufgrund ihrer Krankheit ungerechtfertigt ungleichbehandelt zu werden. Das d-journal berichtete dazu. Die Untersuchungen zur Schweiz gehörten weltweit betrachtet zu den ersten Studien zum Thema. Diese frühen Arbeiten trugen gemeinsam dazu bei, dem Thema Sichtbarkeit zu verschaffen und ein Bewusstsein um die Problematik entstehen zu lassen. Die International Diabetes Federation (IDF) formuliert in ihrer Charta «Rights and Responabilities of People with Diabetes” ein Recht auf soziale Gerechtigkeit. Sie konkretisiert, dass Menschen mit Diabetes den Anspruch haben, von allen mit Respekt und Würde behandelt zu werden, eine faire Behandlung auf Stellenmarkt und beim beruflichen Fortkommen zu erfahren und bei der Erbringung von Versicherungsleistungen und der Vergabe von Fahrausweisen nicht diskriminiert zu werden. Im Globalen Diabetes Plan 2011-2021 forderte die IDF dazu auf, gegen Stigmatisierung vorzugehen und der Diskriminierung von Menschen mit Diabetes Einhalt zu gebieten.
Im Jahr 2009 wurde eine erste Studie zu Diskriminierung auf dem schweizerischen Arbeitsmarkt publiziert. Die SDG gab ein Rechtsgutachten zur «Diskriminierung von Diabetes-Patient/innen» in Auftrag, das ebenfalls 2009 vorgelegt wurde, und arbeitete von 2011 bis 2014 mit der Fachhochschule Nordwestschweiz in einem sozialwissenschaftlichen Projekt zusammen, das aufzeigte, welche Stigmatisierung Menschen mit Diabetes wahrnahmen und in welchen Situationen sie die Erfahrung machten, aufgrund ihrer Krankheit ungerechtfertigt ungleichbehandelt zu werden.
Die ersten Studien bereiteten den Boden für eine rasch wachsende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Stigmatisierung und Diskriminierung aufgrund von Diabetes. In Forschungsarbeiten aus fünf Kontinenten wird die Ungleichbehandlung von Menschen mit Diabetes in den Bereichen: Bildung, Beruf, Familie und Freunde, Öffentlichkeit, Gesundheitsmanagement, Fahrerlaubnis, Versicherungen, Reisen und seltener Adoption festgehalten.
Ausschluss und Benachteiligung haben Folgen für das psychische, soziale und physische Wohlbefinden sowie auf das Selbstmanagement der Menschen mit Diabetes.
Als entscheidende Treiber des Stigmas gelten:
- das vorherrschende gesellschaftliche Verständnis, Menschen mit Diabetes seien für ihre Krankheit selbst verantwortlich,
- das Bild, sie seien körperlich schwach, hilfebedürftig und stellten eine Bürde für ihr soziales Umfeld oder eine Belastung für das Gesundheitssystem dar.
Bilder und Aussagen prägen
Ein Augenmerk der Forschung lag auf dem Bild, das von Medien, aber auch von Gesundheitskampagnen über Menschen mit Diabetes verbreitet wird. Dabei wird deutlich, dass auch wissenschaftliche Publikationen unbedacht dazu beitragen können, ein negatives Bild von Menschen mit Diabetes zu prägen. Auch die Fachkräfte im Gesundheitswesen sind nicht davor gefeit, von diesen Bildern beeinflusst zu werden oder diese weiterzutragen.
Angesichts des öffentlichen Images, das stark auf Menschen mit Diabetes Typ 2 abhebt, und dem öffentlichen Fokus auf dieser Betroffenengruppe, sind auch Spannungen unter Menschen mit Diabetes beobachtet worden. So wurde beobachtet, dass Menschen mit Diabetes Typ 1 sich mit einem wenig vorteilhaften Bild konfrontiert sehen, das in der Öffentlichkeit über Menschen mit Diabetes Typ 2 verbreitet wird, und sich angesichts der Aufmerksamkeit für Diabetes Typ 2 vernachlässigt fühlen, was ihre Person und ihre Anliegenanbelangt. Weiter wurde festgestellt, dass Stigmatisierung zur Verheimlichung des Diabetes beiträgt, die Verwendung von Diabetestechnologien wie zum Beispiel Insulinpumpen behindert und dazu führen kann, dass Selbstpflegeaktivitäten in der Öffentlichkeit vermieden werden.
Studie zu Umgang mit Stigma
Wir haben Anhaltspunkte, wie Menschen mit Diabetes ihr Stigma managen. So konnten wir in unserer eigenen Studie unterschiedliche Umgangs- und Bewältigungsformen erkennen. Es wurden Strategien zu einer defensiven, einer aktiven und einer passiven Umgangsform sichtbar. Die defensive Umgangsform erstreckte sich von der Vermeidung von Situationen, in der eine Offenlegung notwendig werden könnte, über das Kaschieren beziehungsweise Verschweigen der chronischen Krankheit bis hin zur diskreten Handhabung. Die aktive Umgangsform umfasste Strategien der Konfrontation, der Zurückweisung und Relativierung des Stigmas sowie die Nutzbarmachung des Stigmas für eigene Ziele. Bei der passiven Umgangsform zeigten sich Ausgestaltungsformen mit unterschiedlicher Intensität der Internalisierung des Stigmas: phasenweise Übernahme, Teilübernahme des Stigmas, vollständige Integration des Stigmas.
Den Teufelskreis durchbrechen
Internalisiertes Stigma geht mit verstärkten depressiven Symptomen, Angstsymptomen, erhöhter Diabetesbelastung, geringerer sozialer Unterstützung, weniger Widerstandsfähigkeit und Selbstbestimmung sowie mit einem geringeren Selbstwertgefühl einher. Wir wissen aber noch viel zu wenig über die Prozesse der Übernahme des Stigmas in das Selbstbild der Betroffenen und deren Folgen. Was wir jedoch wissen, ist dass es wichtig ist, solche Prozesse zu unterbrechen und die Handlungsfähigkeit der Menschen mit Diabetes zu stärken oder wieder herzustellen. Es ist von Bedeutung, Unterstützungsnetzwerke zu bilden und entsprechende Ressourcen zu stärken, um Stigmata in Frage stellen zu können und individuell angemessene Umgangsformen zu finden. Es ist auch nicht erforscht, wie günstig sich die verschiedenen Umfangsformen auf die Menschen mit Diabetes selbst oder ihr Umfeld auswirken. Es bleibt deshalb auch offen, welche Strategien sich im Prozess einer Stellenbewerbung oder im Umgang mit Arbeitgebenden bewähren würden.
Forschung, Gesellschaft und Politik gefordert
Nach wie vor sind viele Fragen zum Thema noch zu wenig untersucht oder völlig offengeblieben. Es fehlt an Studien, die den Fokus darauf richten, wie die Stigmatisierung aufgrund von Diabetes zusammenspielt mit weiteren Merkmalen, wie Altersgruppe, Gender, soziökonomischer Status, institutionelle Kontexte, ethnische Zughörigkeit sowie andere physische und psychische Erkrankungen. Genauso wissen wir noch zu wenig, ob die Strategien, die zur Bekämpfung der Stigmatisierung anderer Krankheiten eingesetzt worden sind, sich auch im Fall von Diabetes bewähren.
Die Wissenslücken sollen uns aber nicht davon abhalten, das bereits vorhandene Wissen zur Bekämpfung von Stigmatisierung und Diskriminierung einzusetzen und voranzugehen. Es gilt, Menschen mit Diabetes darin zu bestärken, sich für ihre Rechte, für Fairness und Gleichbehandlung einzusetzen, sich gegen die Übernahme von Zuschreibungen zu verwahren, eine individuelle Betrachtung ihres Potenzials und einen hohen Grad an Selbstbestimmung einzufordern, sich nicht einschüchtern und zurückdrängen zu lassen. Das Beispiel von Betroffenen mit Insulintherapie, die als Pilotinnen und Piloten Verkehrsmaschinen steuern, vermag zu zeigen, dass heute Dinge möglich sind, die frühere Generation nicht zu hoffen gewagt hätten. Eine wichtige Funktion von Diabetes-Organisationen ist die Unterstützung von Menschen mit Diabetes in der Wahrnehmung ihrer Rechte. Sie sind Alliierte und Sprachrohre für die Anliegen und Ansprüche von Menschen mit Diabetes. Die Forschung sieht sich in der Verantwortung, das dafür relevante Wissen zu schaffen. Und dies gilt gerade auch mit Blick auf die Schweiz und ihre Politik, ihr Rechtssystem und ihre Institutionen. Das EU-Parlament hat am 23. November 2022 eine Resolution verabschiedet, welche die Institutionen der Union wie auch ihre Mitgliedsländer auffordert, ein evidenzbasiertes, realistisches Bild von Menschen mit Diabetes zu fördern, um Stigmatisierung und Diskriminierung zu bekämpfen. Es fordert die Staaten zudem dazu auf, ihre rechtlichen Bestimmungen zur betrieblichen Gesundheit und Sicherheit aber auch zur Verkehrssicherheit zu überprüfen, um die weitere Diskriminierung von Menschen mit Diabetes zu vermeiden. Vergleichbare parlamentarische Forderungen mit Blick auf die Schweiz wären uns nicht bekannt.
Auch wenn noch ein Wegstück vor uns liegt, scheint uns die Hoffnung berechtigt, Stigmatisierung und Diskriminierung aufgrund von Diabetes im Dreigespann von Menschen mit Diabetes, ihren Organisationen und der Forschung erfolgreich bekämpfen zu können.
Stigma und Diskriminierung
Unter «Stigma» wird ein Merkmal einer Person verstanden, das eine soziale Norm verletzt und dazu führt, dass die Person in «unerwünschter Weise anders» erscheint (Gofmann 1975, S. 13).
«Stigmatisierung» bezeichnet den Prozess, der dazu führt, dass eine Person mit einem Stigma abgewertet und anders behandelt wird und von einer «gewöhnlichen Person zu einer befleckten, beeinträchtigten herabgemindert» wird (Gofmann 1975, S. 11). Zeitgenössische Modelle gehen davon aus, dass sich in diesem Prozess fünf Element kombinieren:
- Personen erkenne menschliche Unterschiede und etikettieren diese Unterschiede mit einem «Label». Welche Unterschiede dabei herausgegriffen, als relevant betrachtet und mit einem Label versehen werden, ist Bestandteil eines sozialen Auswahlprozesses und hat nicht mit dem Merkmal an und für sich zu tun.
- Das Label wird mit Stereotypen verbunden, so dass der etikettierten Person – vom Merkmal unabhängige – unerwünschte Eigenschaften zugeschrieben werden.
- In Gespräch über Menschen mit diesen Merkmalen wird eine (wesensmässige) Differenz zwischen ihnen und der als «normal» betrachteten Mehrheit konstruiert.
- Die Menschen mit diesen Merkmalen werden diskriminiert und verlieren an gesellschaftlichem Status.
- Stigmatisierung ist mit der Ausübung von Macht gekoppelt: Ohne entsprechende Ressourcen und Einfluss kann der beschriebene Prozess keine diskriminierenden Konsequenzen hervorbringen (vgl. Link&Phelan, 2001, 2006).
«Diskriminierung» bezeichnet hier eine Ungleichbehandlung – insbesondere aber eine Benachteiligung, Nichtbeachtung oder einen Schluss – einer Person aufgrund von Merkmalen (wie z.B. Diabetes), die eine Angehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe signalisieren, aber in einem bestimmten Zusammenhang von der Sache her nicht relevant sind (ungerechtfertigte Ungleichbehandlung). Sie ist der Endpunkt eines Stigmatisierungsprozesses.
Stigma-Artikel aus der d-Journal Ausgabe Nr. 222 (2013):
Literatur:
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d-journal 221, 222, 230, 231.
Siehe Schabert, J., Browne, J. L., Mosely, K., & Speight, J. (2013). Social Stigma in Diabetes. Patient, 6, 1-10.
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