Die Pensionierung ist ein wichtiger Lebensübergang mit vielen Herausforderungen. Menschen mit einer chronischen  Erkrankung können sich gerade dann verletzlich fühlen,  doch ihre Erfahrung verleiht ihnen auch wertvolle Ressourcen. Denkanstösse von Dominique Wohlhauser, Psychologin FSP und Psychotherapeutin ASP.

Sie bieten Schulungen zur Vorbereitung auf die Pensionierung an. Was kann in dieser Lebensphase schwierig werden? 

Das Selbstkonzept erfährt eine grosse Veränderung. Es ist wichtig, sich Zeit zu nehmen und sich im Voraus mit diesem Übergang zu beschäftigen. Man rechnet mit einem Jahr vor und einem nach der Pensionierung, bis man sich daran gewöhnt hat. Ringsum gehen alle davon aus, dass es ganz toll wird, und es entsteht ein gewisser sozialer Druck: Was für ein Glück die Rentnerinnen und Rentner haben! Da muss die Pension zum Erfolg werden. So einfach ist aber es nicht. Am Anfang fühlt man sich wie im siebten Himmel. Nach einigen Monaten ist klar, dass es nicht Ferien sind, die einmal enden. Vielmehr bleibt man im Ruhestand. Und das bedeutet ein neues Leben. Man verliert die mit der Arbeitswelt verbundene Identität. Arbeit hat einen sehr hohen gesellschaftlichen Stellenwert, sie ist stets ein Gesprächsthema. Nach der Pensionierung gewinnt der Austausch über die Gesundheit die Oberhand. Eines der Risiken für eine Person mit einer chronischen Erkrankung besteht darin, sich in das auf die Krankheit bezogene Ich zurückzuziehen und es ins Zentrum zu rücken.

Worauf kann man sich während dieses identitären Wandels stützen? 

Wir haben verschiedene Lebensbereiche: physische und psychische Gesundheit, Sinn des Lebens, Sachen, die man gern macht, Freundeskreis, Familie usw. Man kann sich ins Bewusstsein rufen, dass wir auch diese Identitäten haben. Sich im ganzen Spektrum des Daseins wahrnehmen, alle Facetten des Ichs in den verschiedenen Rollen erkunden. Sich sagen: «Ich bin auch die Person … und die auch … und jene.» Wir können diese Lebensbereiche mit Luftballons vergleichen, die man in der Hand hält. Einer – die Arbeit – wird schrumpfen. Dadurch geraten die übrigen in Bewegung. Dies kann widersprüchliche Gefühle auslösen. Was völlig normal, sogar der Gesundheit zuträglich ist. Einer der Schlüsselfaktoren ist, den Mut zu haben, die Gefühle anzuerkennen und sich selbst mit Wohlwollen zu begegnen. Sich trauen, Momente zu erleben, in denen man denkt: «Es ist überhaupt nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe.» Sich zum Beispiel trauen, traurig zu sein, wenn uns die Kolleginnen und Kollegen fehlen. Es braucht vielleicht Zeit, bis man neue Inhalte und neue Rollen gefunden hat. Manchmal ergeben sie sich durch Grosskinder. Oft kann die Partnerin oder der Partner wichtige Impulse für Neues geben. Oder Freunde, übrigens nicht nur Pensionierte, schlagen regelmässige Treffen im kleinen Kreis vor.

Ruhestand bedeutet viel freie Zeit: Ist das grundsätzlich positiv? 

Arbeit ist mit Pflichten, aber auch mit Strukturen verbunden. Und der Mensch braucht Struktur, sie gibt Sicherheit. Mit der Pensionierung muss man andere Orientierungspunkte finden und selber entscheiden, wie der Tag gestaltet werden soll. Wenn man mit einer chronischen Erkrankung lebt, gilt es, nicht nur im Alltag einen neuen Rhythmus zu finden, sondern auch in Bezug auf alles, was mit der Krankheit zusammenhängt. Manches war bisher durch die Arbeit vorgegeben, zum Beispiel die regelmässigen Blutzuckerkontrollen. Zudem kann Angst vor Leere aufkommen; man fragt sich, wie sie gefüllt werden soll. Bei Untätigkeit, Langeweile, sogar Rückzug, wenn die sozialen Kontakte abnehmen, besteht die Gefahr, gewisse Kompensationsmechanismen zu entwickeln, besonders bei der Ernährung: Man möchte am liebsten mehr essen oder zwischen den Mahlzeiten naschen. Eine weitere kompensatorische Verhaltensweise ist etwa die Flucht in unzählige Aktivitäten. Hier geht es darum, im Gleichgewicht zu bleiben.

Wie kann man verhindern, aus der Balance zu kommen? 

Indem man sich selbst gegenüber achtsam ist. Bei einschneidenden Veränderungen ist man verletzlicher. Sich nicht verurteilen. Sich helfen lassen. Den Kontakt zu Organisationen suchen, die im entsprechenden Gebiet aktiv sind; mit Fachpersonen aus der Medizin oder Ernährungsberatung reden und regelmässige Termine vereinbaren, sich an eine Psychologin oder einen Psychologen wenden. Für manche ist es sehr schwierig, um Hilfe zu bitten. Sie haben Angst, sich nicht mehr handlungsfähig zu fühlen und ihre Selbstständigkeit zu verlieren. Menschen mit einer chronischen Erkrankung verfügen hier möglicherweise über eine wichtige Ressource: Sie mussten sich bereits begleiten lassen. Sie wissen, dass man nicht alles allein schafft, dass professionelle Unterstützung oder Hilfe vonseiten der Familie oder des Netzwerks nötig ist. Die Erfahrung, um Hilfe zu bitten, ist eine grosse Stärke.

Welche anderen Erfahrungen aus dem Leben mit Diabetes können Ressourcen darstellen? 

Oft haben sich Menschen mit einer chronischen Erkrankung bereits mit der Veränderung ihres Selbstbildes und mit ihrem Selbstwert auseinandergesetzt. Sie mussten feststellen: «Ich werde nicht mehr dieselbe oder derselbe sein.» Loslassen, akzeptieren. Nehmen, was da ist. Nicht alle verfügen über diese überaus kostbare Ressource, um später andere Formen der Verletzlichkeit akzeptieren zu können. Überdies sind sich Diabetesbetroffene gewohnt, die Spannung auszuhalten, die zwischen dem Hier und Jetzt und der Bereitschaft, jederzeit zu handeln, entsteht. Sie rechnen zum Beispiel aus, wie sich Glukosewerte auf diese oder jene Aktivität auswirken könnten. Das kann Stress verursachen, doch die Betroffenen entwickeln Geschicklichkeit und Anpassungsfähigkeit. Dies sind nicht zu unterschätzende Ressourcen. Schliesslich führen gesundheitliche Beschwerden dazu, dass der Mensch sich seiner Existenz bewusst wird. Menschen, die vor der Pensionierung mit einer Krankheit lebten, setzen sich während dieses Übergangs oft mit ihren Werten in Bezug auf das Leben und das Sterben auseinander. Damit kann auch ein starkes Verantwortungsgefühl und Achtsamkeit sich selbst gegenüber einhergehen.

EINE HERAUSFORDERUNG FÜR DIE PARTNERSCHAFT?


Es wichtig, frühzeitig miteinander zu reden. Sich fragen, was beide brauchen, und zwar in verschiedener Hinsicht: physische Gesundheit, Lebensrhythmus, individuelle Freiräume, Kontakte, Aktivitäten, Projekte, Finanzen … In diesem Lebensabschnitt geht es in der Partnerschaft nicht um grosse Projekte – wie den Wunsch, nach Kanada zu reisen –, sondern um Alltagsbewältigung. Der Umgang mit einer chronischen Krankheit gehört dazu. Kontrollen und Pflege werden für die Partnerin oder den Partner sichtbarer, was Ängste verursachen kann. Wie kann man den persönlichen Freiraum behalten? Wie kann man helfen, ohne das Gegenüber wie ein Kind zu behandeln? Es kann auch eine Befangenheit in Bezug auf das Selbstbild entstehen, Angst, verletzlich zu wirken. Wie kann man einen Teil der Faszination und des verführerischen Charmes sowie ein gutes Selbstwertgefühl behalten? Vielleicht wünscht eine Person zum Beispiel, die Pflege in einer bestimmten Umgebung vorzunehmen und während dieser Zeit nicht gestört zu werden. Diese Dinge sollte man einander sagen.

AutorIn: Martine Salomon