Nur Menschen mit Diabetes wissen, wie es sich anfühlt, damit zu leben. Das zeigt sich besonders deutlich in den Erfahrungs- oder ERFA-Gruppen. René Krattiger, Leiter der ERFA-Gruppe Lyss/Aarberg, erzählt, weshalb ihm diese Treffen sehr viel bedeuten.

 

«Für das Diabetesmanagement lerne ich am meisten von anderen Personen, die ebenfalls Diabetes haben», sagt René Krattiger. Und Liliane Krattiger ergänzt: «In unserem sozialen Umfeld hast du wenig Gelegenheit, mit Diabetikern zu diskutieren. Ich denke, gewisse Fragen zu Diabetes kann nur jemand beantworten, der selbst Diabetes hat. Dieser Austausch fehlte dir, und deshalb ist dir die ERFA-Gruppe so wichtig geworden, nicht wahr?» René Krattiger bestätigt, er sei auch nach 54 Jahren mit Diabetes noch immer sehr interessiert, wie andere den Diabetes handhaben. «Es gibt nicht eine richtige Therapieform, sondern verschiedene Möglichkeiten. Wie will ich herausfinden, was wirklich hilfreich ist und zu mir passt? Die ehrlichsten Antworten erhalte ich von anderen Diabetikerinnen und Diabetikern. Indem ich ihnen zuhöre und mich mit ihnen austausche, kann ich meine eigene Meinung bilden und vielleicht etwas Neues ausprobieren.» So erfuhr er auch von der Patch-Pumpe, liess sich die Anwendung vorführen und davon überzeugen. Seit drei Jahren ist René Krattiger nun überaus zufrieden mit Glukosesensor und Patch-Pumpe. Er könne sich nichts anderes mehr vorstellen, nachdem er sich jahrelang schon gegen den Gedanken an eine Insulinpumpe gewehrt habe. Verändert hat sich sein Blickwinkel schliesslich durch das Teilen der persönlichen Erfahrung einer Diabetikerin.

Plötzlich wird vieles klar

René Krattiger (70) betont, an der eigenen Situation lasse sich immer etwas verbessern, wenn man neugierig bleibe. «Mich interessiert eigentlich alles ausser Eishockey. Ich merke zwar, wenn ein Goal geschossen wurde, sehe aber den Puck nicht.» Er lacht. «Check’sch dr Puck?» Humor blitzt im Gespräch mit René Krattiger immer wieder auf und ist ihm auch wichtig bei den Treffen der ERFAGruppe Lyss/Aarberg, die er seit vier Jahren leitet. Hier werden Sorgen und Freuden, Tipps, Tricks und Problemlösungen ausgetauscht. Es soll aber keineswegs nur ernst zu und her gehen, sondern auch gelacht werden. Am wichtigsten ist der gegenseitige Respekt. Alle, die möchten, kommen zu Wort und brauchen nur das zu erzählen, was sie wirklich mitteilen wollen. René Krattiger nimmt seit etwa sechs Jahren an diesen Treffen teil. Als die damalige Leiterin zurücktrat, war ihm und anderen Teilnehmenden wichtig, dass es weiterging. «Denn in einer Gruppe von Menschen, die an einer guten Lebensqualität interessiert sind, gibt es immer viel zu besprechen und zu vergleichen. Das hört nicht auf.» René Krattiger widmete sich nach seiner Pensionierung als Gemeindepolizist von Ins gern einer neuen, sinnvollen Tätigkeit und übernahm für die Gruppe die leitenden und organisatorischen Aufgaben. Im Vordergrund stehen die zweimonatlichen Treffen im Kirchgemeindehaus Lyss. Doch die gegenseitige Unterstützung der Mitglieder – die meisten mit Diabetes Typ 1, aber auch solche mit Diabetes Typ 2 – ist durchs ganze Jahr möglich. René Krattiger führt eine Namensliste, auf der neben den Kontaktangaben zu sehen ist, wer welches Insulin und welche Geräte verwendet. «Alle haben diese stets aktualisierte Liste griffbereit. So kann man um Rat fragen, wenn das Messgerät nicht richtig funktioniert, oder man kann sich aushelfen, wenn die Lieferung der Patch-Pumpe nicht geklappt hat oder jemandem an einem Sonntag die letzte Insulin-Ampulle zerbricht. Die Liste zeigt, wer die gleiche Pumpe respektive das gleiche Insulin benützt. Das ist der Sinn der Gruppe: Einander helfen und beraten. Oft stellt man sich selbst nicht die richtigen Fragen. Zum Beispiel wenn Schwankungen der Blutzuckerwerte auftreten, die man nicht begreift. Andere Diabetesbetroffene fragen auf interessante und äusserst hilfreiche Weise nach, sodass plötzlich einiges klar wird.»

Stimmen aus den ERFA-Gruppen

« Ich nehme schon seit 20 Jahren teil und profitiere noch immer. Soeben habe ich eine neue Pumpe erhalten und bin froh, von anderen Erfahrungen zu hören.»

« Bevor ich der Gruppe beitrat, hatte ich mich mit dem Diabetes sehr allein gefühlt. Die Gruppe hat mich motiviert, auf eine Pumpe zu wechseln. Zum Glück. Dank der Pumpe wagte ich es, eine mehrwöchige Australienreise zu unternehmen.»

« Es ist sehr interessant, wie unterschiedlich die Krankheit gehandhabt wird. Ich bin zum Beispiel ein überzeugter Gegner von Insulinpumpen. Mit dem Pen geht es auch. Die Diskussionen sind immer sehr spannend.»

« Mir hat der Austausch viel Selbstsicherheit gegeben. Mein Diabetes Typ 1 wurde erst vor zwei Jahren diagnostiziert. Das HbA1c ist gut, der Diabetologe ist zufrieden und meint, ich brauche nichts zu ändern. Ich bin aber auf der Suche nach echten Tipps. In der Gruppe erhalte ich gute Anregungen und Informationen. »

 

Langer Verzicht auf Treffen

Das Ehepaar Krattiger wohnt im schönen Dorf Ins. Unser Gespräch findet bei einem feinen Znacht mit Delikatessen aus dem Garten statt. René Krattiger schaut oft auf die Uhr, möchte er doch frühzeitig in Lyss eintreffen, um den Raum für die ERFAGruppe vorzubereiten. Heute ist die Zusammenkunft endlich wieder möglich, nachdem aufgrund der Coronamassnahmen über ein Jahr lang darauf verzichtet werden musste. René Krattiger fehlten die Treffen, «denn diese Begegnungen und der persönliche Erfahrungsaustausch machen einen gelassener». An diesem Montag im Juni kommen acht Frauen und vier Männer zusammen. Noch im Stehen beginnen die angeregten Gespräche. Die Stimmung ist freundlich, nahezu freundschaftlich. René Krattiger eröffnet die Runde: «Wie ist es euch in den letzten Monaten ergangen? Seid ihr geimpft?» Die meisten äussern sich dazu, dann findet aber schnell der Wechsel zum Thema Diabetes statt und für die Journalistin erzählen einige, was ihnen die ERFA-Gruppe bedeutet (siehe Zitate links).

Der Sensor als Gesprächsanlass

René Krattiger setzt sich dafür ein, dass Informationen zu Diabetes auch von Aussenstehenden in die Gruppe gebracht werden. Für das nächste Treffen lädt er nach Absprache mit den Teilnehmenden eine Fachfrau einer Firma ein, die Injektionssysteme entwickelt und produziert. «Wir begrüssen den technologischen Fortschritt und sind immer interessiert, Neues zu erfahren», sagt der Gruppenleiter. «Und wir stellen kritische Fragen aus Anwendersicht», schmunzelt er.

René Krattiger spricht nicht nur in der Gruppe offen über die Aspekte des Diabetes. Seitdem er Glukosesensor und Insulinpumpe einsetzt, versteckt er den Diabetes im Freundes- und Bekanntenkreis kaum mehr. Weil er auf den Sensor am Oberarm angesprochen wird. «René, was ist das?» Dann erzählt er entspannt von seinem Diabetes und erklärt auf dem Handy die Blutzuckerwerte. «Früher fühlte ich mich benachteiligt und befürchtete, als nicht voll leistungsfähig zu gelten. Doch meine Selbsteinschätzung hat sich gewandelt. Die vielen Gespräche mit Menschen, die alle wissen, wie es sich anfühlt, mit Diabetes zu leben, ermutigen und prägen mich sehr.»

→ Erkundigen Sie sich bei den regionalen Diabetesgesellschaften nach bestehenden Erfahrungsgruppen für Menschen mit Diabetes oder wie sich eine neue Gruppe gründen lässt.

 

AutorIn: Text: Pascale Gmür / Foto: Maurice K. Grünig