Im Frühling 2022 reiste Michael Lustenberger nach Südkorea, um an der Universität von Seoul während eines Austauschsemesters Elektrotechnik zu studieren. Als er sich für den Aufenthalt entschieden hatte, war er noch nicht Diabetiker. Trotz Diagnose blieb der heute 24-Jährige bei seinem Vorhaben.

Text und Fotos: Michael Lustenberger

Unter der Decke des Kwangjang Food Markets in Seoul wehen Hunderte kleine Landesflaggen. Sie wehen im Wind der Lüftungsanlage, welche die 32 Grad Celsius warme Aussenluft, zusätzlich erhitzt von den offenen Küchen, durch die Markthalle bläst. Es ist Abend und wir sind hungrig. Auf der Suche nach etwas, das unseren Hunger stillt, gehen wir vorbei an der Frau, die in hohen Pfannen Dumplings dämpft, vorbei an den Töpfen voll mit Kimchi (eingelegtem Kohl), mit gebratenem Oktopus und mit Tteokbokki (koreanische Reiskuchen in scharfer Sauce). Vorbei an Schweinefüssen und gestapelten Blutwürsten. Wir passieren Aquarien, in denen die Fische bis kurz vor dem Verzehr am Leben gehalten werden. Links und rechts der etwa 10 Meter breiten und 200 Meter langen Halle reihen sich Restaurants aneinander.

Dazwischen quetschen sich Köchinnen, immer alte Frauen, mit ihren offenen Ständen und ihre Kundschaft. Auf den Gasherden werden Kimchi-Pancakes gebraten, Shrimps frittiert oder selbstgezogene Nudeln gekocht. Heute steht uns der Appetit nach koreanischen Pancakes, also setzen wir uns an die Theke, an der eine Gruppe koreanischer Mittvierziger bereits Pancakes auf den Tellern hat. Kurz darauf erhalten wir irgendwas Frittiertes und Gebratenes. Wir vermuten Fisch, Kohl, Schinken, Blutwurst und Süsskartoffeln. Dazu trinken wir Somaek, koreanisches Bier mit Reiswein gemischt. Das trinken hier alle.

Zuversicht durch Erfolgserlebnisse

Zuversicht durch Erfolgserlebnisse Als ich mich im Frühling 2020 dafür entschied, für mein Austauschsemester nach Seoul zu reisen, war ich noch nicht Diabetiker. Die Diagnose kam ein gutes halbes Jahr nach meinem Entschluss. Der Austausch wäre eigentlich für den Frühling 2021 angesetzt gewesen, wurde aber wegen der Coronapandemie um ein Jahr verschoben. Das gab mir willkommene Zeit, um mich an die Umstellungen zu gewöhnen, die Diabetes Typ 1 mit sich bringt – zum Beispiel den Umgang mit der Insulinpumpe. Ich überlegte mir in diesem Jahr auch, den Aufenthalt abzusagen. Aber ich hatte mir vorgenommen, mein Leben mit Diabetes möglichst so zu gestalten, wie ich es ohne auch getan hätte.

In Südkorea liess sich der Student Michael Lustenberger auch kulinarisch auf Unbekanntes ein.

Es gelang mir, glaube ich, relativ gut, die Krankheit anzunehmen. Weil mir klar ist, dass ich nichts tun kann, um wieder gesund zu werden, versuche ich, das Beste daraus zu machen und mich kaum einschränken zu lassen. So habe ich vieles ausprobiert und dabei gemerkt, dass noch immer fast alles möglich ist. Ich war letzten Sommer eine Woche auf dem Segelboot unterwegs und stand im vergangenen Winter das erste Mal auf den Langlaufskis. Ich gehe regelmässig in die Berge und habe auch ganz normal meine Wiederholungskurse in der Armee absolviert. Diese Erfolgserlebnisse gaben mir die Zuversicht, dass ich meinen Diabetes auch in Südkorea im Griff haben würde. Also bereitete ich mich auf meinen Auslandaufenhalt vor. Ich studiere im Master Elektrotechnik an der ETH Zürich. Im Rahmen meines Studiums kann ich ein Semester an einer ausländischen Partneruniversität absolvieren. Diese Chance wollte ich wahrnehmen und entschied mich für Seoul, weil ich aus dem westlichen Kulturkreis hinaus wollte. Ich mag es, mich ausserhalb meiner Komfortzone zu bewegen, und Südkorea bot mir die optimale Mischung aus einer guten Universität, einer Millionenstadt sowie einer unbekannten Kultur.

Der Pavillon Hyangwonjeong (übersetzt: «Weitreichender Duft») im künstlich angelegten Lotusteich gehört zum Palast Gyeongbokgung («Strahlende Glückseligkeit») in Seoul.

Busan ist mit 3,5 Millionen Menschen nach Seoul die zweitgrösste Stadt Südkoreas.

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Vorbereitung: mit Diabetes etwas aufwändiger

Für diejenigen, die mit Insulinpumpen nicht vertraut sind: Sie bringen regelrechte Materialschlachten mit sich. Alle drei Tage den Katheter wechseln, jede Woche einen neuen Sensor setzen. Auf dieses Material bin ich angewiesen. Da mir der Hersteller meiner Pumpe das Material nicht nach Korea schicken wollte, habe ich alles in der Schweiz vorbestellt und das gesamte Material für fünf Monate sowie etwas Reserve nach Korea mitgenommen. Mit Ersatz-Pumpe, Ersatz-Sensortransmitter, Ersatz-Stechhilfe, Ersatz- Blutzuckermessgerät, Messstreifen, drei Insulinpens als Backup und vielen anderen kleinen Dingen kamen mehr als acht Kilogramm Diabetes- Gepäck zusammen.

Das war noch nicht alles, was ich an Vorbereitungsarbeit leisten musste. Ich erkundigte mich bei den Herstellern des von mir verwendeten Insulins und meines Blutzuckermessgerätes, ob ihre Produkte auch in Südkorea erhältlich seien. Obwohl das bejaht wurde, klapperte ich dann schliesslich 22 Apotheken ab, ohne die richtigen Teststreifen zu finden. Zum Glück kann man in Südkorea alles online bestellen.

Ich nahm auch einen Insulinvorrat mit. Um dann vor Ort an Insulin zu kommen, liess ich mir auf dem Universitätscampus vom Arzt unkompliziert ein Rezept ausstellen. Mein übersetztes Arztzeugnis aus der Schweiz und der Google-Übersetzer waren dabei sehr hilfreich. Englisch ist in Korea viel weniger verbreitet, als ich erwartet hatte, sogar unter den Studierenden. So sind Informationen wie Speisekarten, Anleitungen oder Wegbeschreibungen nur in Koreanisch verfügbar. Und trotz Koreanischkurs waren meine Sprachkenntnisse zu wenig gut, um Gespräche zu führen, die über drei Sätze hinausgingen. Aufgrund der hohen Sprachbarriere war ich froh, die vierteljährliche Kontrolle bei meinem Schweizer Arzt machen zu können. Ich lud die Daten meiner Pumpe und meines Sensors auf die Online-Plattform, auf die auch mein Arzt Zugriff hat, und dann besprachen wir die Werte via Zoom.

Ich mag es, mich ausserhalb meiner Komfortzone zu bewegen, und Südkorea bot mir die optimale Mischung aus einer guten Universität, einer Millionenstadt sowie einer unbekannten Kultur. 

Tintenfisch? Reiskuchen? Schweinsleber?

Wie eingangs bereits erwähnt, wird in Korea anders gegessen als in der Schweiz. Doch nicht nur das «Was» ist anders, sondern auch das «Wie»: Weil frische Lebensmittel in Korea vergleichsweise teuer sind und viele Menschen in ihren kleinen Wohnungen kaum Platz zum Kochen haben, essen sie fast immer auswärts und teilen alles, was auf den Tisch kommt. Ich hatte im Studentenwohnheim gar keine Möglichkeit, selbst zu kochen. Wenn man als Diabetiker auswärts isst, fällt es generell etwas schwerer, die Kohlenhydratmenge abzuschätzen. Zudem sorgte die Sprachbarriere oft dafür, dass ich nicht wirklich wusste, was genau ich bestellt hatte. Tintenfisch? Reiskuchen? Schweinsleber? Irgendein mir unbekanntes Gemüse? Oder war es einfach Reis in einer neuen Form?

Die Marktstände werden meist von Frauen geführt. In Südkorea ist es traditionellerweise auch die Frau, die das Familienvermögen verwaltet.

Doch das alles war nur halb so schlimm, nach ein paar Wochen hatte ich den Dreh raus. Ich wusste ungefähr, wofür ich wie viel Insulin spritzen musste, und falls ich mich doch mal verschätzte, halfen entweder die Pumpe oder ein paar (aus der Schweiz mitgebrachte) Traubenzucker. Je nachdem, in welche Richtung ich mich verschätzt hatte. Auch durch das regelmässige Sporttreiben konnte ich zu hohe Blutzuckerwerte verhindern.

Einziger Europäer in der U-Bahn

Wenn ich nun von zuhause auf das Erlebte zurückblicke, stelle ich fest, dass sich die Mühen gelohnt haben. Einige Monate in einer Millionenstadt zu leben, zu einer Zeit, in der wegen Corona kaum Touristinnen und Touristen im Land sind und ich meistens der einzige Europäer im U-Bahn-Wagen und in den Restaurants war, das hat mich sehr beeindruckt. Ich besuchte Schweizer Offiziere an der Grenze zu Nordkorea, wanderte auf einen erloschenen Vulkan, fuhr zur Rush-Hour mit geschätzt 3000 anderen Menschen in der U-Bahn, und mir wurde gezeigt, wie man Muscheln richtig grilliert. Ich habe neue Freunde gefunden und dabei auch viel über mich selbst gelernt, bin aus Routinen ausgebrochen und habe neue geschaffen. Auch wenn es nicht immer einfach war – nicht nur, aber auch, weil ich Diabetes Typ 1 habe – erlebte ich eine wundervolle Zeit, und ich würde mich sofort wieder für das Austauschsemester in Südkorea entscheiden.

AutorIn: Michael Lustenberger