Leben mit Insulin Teil 1

Anita Stoll (74), Diabetikerin Typ 1 seit 61 Jahren:

“Eine echte Revolution, den Blutzucker selbst messen zu können”

Text: Pierre Meyer / Foto: Olivier Vogelsang

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Anita Stoll hat alle Entwicklungen der Diabetestherapie miterlebt und geht mit ihrer Krankheit so um, dass Komplikationen weitgehend vermieden werden. Diese lebenslangen Anstrengungen liessen die leidvolle Kindheit in den Hintergrund treten: 1949, als Anita zwei Jahre alt war, wurde sie fremdplatziert. Zusammen mit ihrer Schwester und den beiden Brüdern wurde sie der damals 24-jährigen Mutter weggenommen, nachdem der Vater die Familie verlassen hatte. Die vier Kinder verbringen zehn Jahre in einer Pflegefamilie, wo Gewalt kein Fremdwort ist. Anita ist zwölf, als sie allein ins Pestalozziheim Redlikon ZH gebracht wird. «Eine Erziehungsanstalt», beschreibt sie den Ort. Der bodenlose Kummer über die Trennung von ihren Geschwistern wird durch die fehlende Empathie des Betreuungspersonals für die etwa 30 Mädchen nur noch schlimmer. «Keine Zuneigung und schon gar keine Nähe», so das Fazit von Anita Stoll – und für kurze Zeit erlischt der Blick dieser Frau, die ansonsten so viel Lebendigkeit und Kampfgeist ausstrahlt.

Unter diesen schwierigen Bedingungen verspürt Anita im Juli 1960 auf einmal einen unstillbaren Durst. «Ich trank immerzu. Meine Mitbewohnerinnen füllten abwechselnd die Wasserflasche, während ich ständig zur Toilette musste. In dieser Zeit nahm ich zehn Kilo ab und war furchtbar müde.» Die Reaktion im Kinderheim: «Hör auf mit diesem Theater!»

Im diabetischen Koma

Zum Glück holte ihre Mutter sie im August für einige Ferientage ab. «Als Mama mich so abgemagert und mit eingefallenen Augen sah, erkannte sie mich kaum wieder. Am zweiten Morgen konnte ich nicht mehr richtig laufen. Meine Mutter brachte mich sofort zu einem Arzt, dieser schickte uns zur Kinderstation des Zürcher Spitals, wo die Diagnose schnell gestellt war: ‹Ihre Tochter ist zuckerkrank›, sagte der Arzt zu Mama. Zu diesem Zeitpunkt lag ich in einem diabetischen Koma.»

Fünf Wochen bleibt Anita im Spital, um wieder auf die Beine zu kommen und die Grundlagen der Therapie kennenzulernen. «Damals war alles noch sehr aufwendig. Ich musste täglich einen Urintest machen, das heisst, 1 bis 2 cl Benedict-Reagenz (eine blaue Flüssigkeit) und ein paar Urintropfen in ein Röhrchen geben, das Ganze im Wasser- bad zum Kochen bringen und auf die Reaktion warten. Je mehr die Farbe in Richtung oliv-braun-rot ging, desto mehr Zucker befand sich im Urin. Jeden Montagmorgen musste ich ins Spital, um den Urin der letzten 24 Stunden zur Kontrolle abzugeben. Ausserdem hatte ich einmal pro Woche meine Spritze und die Nadeln, die in Alkohol aufbewahrt wurden, in kochendem Wasser zu sterilisieren.»

Zunehmende Rebellion

Anita fühlt sich stark eingeschränkt, Rebellion und Unbehagen werden grösser. Der behandelnde Kinderarzt und Diabetologe des Spitals beobachtet die Situation und beschliesst, Anita für ein Jahr als Au-pair anzustellen. Sie ist 15 Jahre alt, schaut zu den vier Kindern der Familie und macht den Haushalt. «Dieses Jahr war sehr schwierig. Ich interessierte mich für nichts, lehnte jegliche Autorität ab und war gereizt. Aber um die Kinder habe ich mich gern gekümmert.» Anschliessend folgt wieder ein Aufenthalt in einem Heim für Mädchen. Mit 16 Jahren beginnt Anita eine Lehre als Coiffeuse. Diese Arbeit gefällt ihr richtig gut, und sie bleibt drei Jahre lang im selben Salon.

Energie durch Lebenshunger

Auf all die Jahre, in denen Anita Stoll ihren Diabetes vermutlich zu wenig beachtet hatte, geht sie im Gespräch nicht ein. Denn viel wichtiger war, die verlorene Zeit nachzuholen und das Leben ausgiebig zu geniessen. 1968 zieht sie schliesslich mit ihrem Freund nach Genf. Sie ist jetzt 21. Anita Stoll bleibt und eröffnet ihren ersten Coiffeursalon. Nach ein paar Jahren wechselt sie den Beruf und steigt mit einem Geschäftspartner in die Gastronomie ein. Sie mag es, im Kontakt mit Menschen zu sein und möchte hier weiterkommen. Aber der Diabetes ist immer noch da und lauert im Hintergrund. Innerhalb eines Jahrzehnts muss sie sich drei Augenoperationen (Vitrektomien) unterziehen, zwei am rechten und eine am linken Auge. Das ist zu viel. Anita Stoll beschliesst, ihre Krankheit in den Griff zu bekommen. Ihr Mann, den sie 1980 kennengelernt hat, leistet wertvolle Unterstützung. Er ist Musiker, sie weiss, wie man ein Café führt: Zusammen eröffnen sie die Musikbar «Mexico» im lebendigen Genfer Stadtviertel Les Pâquis. Das «Mexico» ist ein voller Erfolg. Endlich, nun wendet sich das Leben Anita Stoll zu. Und zwar nicht nur beruflich, sondern auch gesundheitlich: Die Medizin ist jetzt so weit, dass der Blutzuckerwert mit einem Tropfen Blut bestimmt werden kann. «Eine echte Revolution. Viel genauer als die Untersuchung des Urins.» Damit lässt die tägliche Anspannung etwas nach. Anita Stoll ist fest entschlossen, den Diabetes zu kontrollieren, was ihr mit beharrlicher Zielstrebigkeit gelingt. Ihr Anspruch: Im Durchschnitt unter 7 mmol pro Liter bleiben – eine tägliche Herausforderung, bei der ständig eine Hypoglykämie droht und manchmal auch eintritt.

Offizielle Entschuldigung

Die Kindheit jedoch wird für immer in schmerzhafter Erinnerung bleiben. Eine auseinandergerissene Familie. Das bedrückende Schweigen. Ihre Mutter spricht nie über diese Zeit. Anita Stoll leidet darunter, doch die offizielle Entschuldigung, die Bundesrätin Simonetta Sommaruga 2013 gegenüber fremdplatzierten Kindern ausspricht, ist ein wenig wie Balsam fürs Herz. Die Betroffenen erhalten eine (geringe) Entschädigung für all das, was ihnen angetan worden war.

Wir sitzen gemütlich auf der Veranda ihres hübschen Hauses in Collonge-Bellerive bei Genf. Das Gespräch könnte bis in die Nacht hinein dauern. Ihr Mann hat sich diskret in seinen Musikraum zurückgezogen. Anita Stoll hat den Blutzucker zu Beginn des Interviews (6.2 mmol/l) und am Ende (9.4 mmol/l) kontrolliert. Mit ihrem Omnipod spritzt sie sich im Nu eine Einheit Insulin. Die zerbrochene Kindheit und der Diabetes sind zwar immer noch da, aber technisch ist alles einfacher geworden.

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Leben mit Insulin Teil 2

Anton Stettler (78), Diabetiker Typ 1 seit 50 Jahren:

«Das Insulin gab mir das phantastische Gefühl der Rettung.»

Text: Pascale Gmür / Foto: Maurice K. Grünig

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Es waren nur wenige Gramm, doch weil sie vom Mond kamen, waren die Gesteinsproben eine Sensation. Der Zufall wollte es, dass Anton Stettler im Jahr 1969, als die Apollo-Astronauten das Neuland betraten, im Physikalischen Institut der Uni Bern arbeitete, welches eine gute Verbindung zur amerikanischen Raumfahrtbehörde hatte. So landeten in Bern die Teilchen des Mondes, mit dem Auftrag, dessen Entstehung und Geschichte zu erforschen. Für die Analyse dieser Bodenproben mussten neue, höchst empfindliche Instrumente und Verfahren entwickelt und komplexe, zeitaufwendige Berechnungen vorgenommen werden. Der junge Physikstudent gehörte zum Team dieses spannenden, ambitionierten Projekts. Parallel dazu schloss er sein Lizenziat ab, wurde zum ersten Mal Vater und arbeitete auf sein Doktorat hin. Pausen gab es selten, Anton Stettler fühlte sich zunehmend erschöpft. Als ihn unablässiger Durst und Harndrang ernsthaft beeinträchtigten, ging er zum Hausarzt, der nach der Blutanalyse sagte: «In einem Glas mit solchem Blut würde ein Löffel wohl stecken bleiben.» Noch am selben Tag lernte der 28-jährige Patient den Diabetologen Arthur Teuscher kennen, der ihn fortan begleiten würde und ihm nun erstmals Insulin spritzte. Anton Stettler hat jenen Moment vor 50 Jahren sehr genau präsent: «Die Lawine, die sich über Monate aufgetürmt hatte, löste sich dank des Insulins innert Stunden auf, und ich fühlte mich wie früher. Das war phantastisch. Das Gefühl dieser Rettung war so stark, dass es nicht mehr verschwand und bis heute geblieben ist.» Zurück wollte er auf keinen Fall. «Ich denke, dieser Effekt der schnellen Besserung bewog mich, selbstverantwortlich dafür zu sorgen, dass es mir mit dieser Krankheit möglichst lange gut geht.»

Das persönliche Projekt

Der 78-Jährige bezeichnet die Anfangszeit mit Insulin als «Diabetes- Lehre», mit dem Diabetologen als Lehrer und mit Fachliteratur als Wissensquelle. «Als ich die physiologischen Zusammenhänge als Laie einigermassen verstand und den Umgang mit den Hilfsmitteln beherrschte, wurde der Diabetes zu meinem eigenen Projekt, das ich möglichst erfolgreich führen wollte. Glücklicherweise war ich in meiner neuen Situation nie allein. Esther, meine Ehefrau, absolvierte eine eigentliche ‹Diabetes-Lehre für Angehörige›. Ihre unglaubliche Flexibilität, Geduld und Toleranz haben unserer Familie bis heute trotz des Diabetes eine tolle Lebensqualität ermöglicht. Diese Unterstützung lässt sich durch nichts anderes kompensieren.» Damals legte die Diabetesdiagnose aber einen Schatten auf die Pläne des Paares. Die beiden wünschten sich ein zweites Kind. Doch, könnte die Krankheit vererbt oder das Vatersein durch eine reduzierte Lebenserwartung beeinträchtigt werden? Der Diabetologe beruhigte ihn: Wenn er sich an das (damals geltende) stringente Therapieschema halte und der Diabetes weiterhin gut einstellbar bleibe, könne er noch 30 Jahre leben. «Wir bekamen unseren zweiten Sohn, heute bin ich fünffacher Grossvater und habe die prognostizierte Zeit längst hinter mir gelassen. Das verdanke ich dem rasanten medizinisch-technologischen Fortschritt.» Eine entscheidende Verbesserung brachte ihm die erste Insulinpumpe im Jahr 2000. «Diese Systemumkehr war frappant. Nun konnte ich das Insulin auf das Essen und die Aktivitäten abstimmen, nicht mehr umgekehrt. Zusammen mit der kontinuierlichen Glukosemessung vergrösserte sich die Autonomie. Zwei Jahrzehnte früher waren es die Blutzuckermessgeräte, die einen vom Arzt unabhängiger machten.» Selbst den Blutzucker zu prüfen und zu beobachten, wie er worauf reagiert, gehörte zum Projekt mit sich selbst und zu Anton Stettlers naturwissenschaftlicher Neugier.

Immer das Bestmögliche tun

«Heute kann ich sagen, dass ich mit dem Diabetes viel Glück hatte. Meiner war gutmütig und sprach günstig auf die Behandlung an. Vieles hängt von der Diabetesform ab, doch es hilft, wenn man häufig misst und einen gesunden Lebensstil führt.» Es gehöre dazu, dass sich der Diabetes mit dem Alter verändere und Spätfolgen zeige. Diese seien besser zu akzeptieren, wenn man sich gewiss sein könne, zumindest das Wesentliche getan zu haben, was an Prävention machbar sei. Möglichst «viele geschenkte Jahre» geniessen zu können, bewog ihn dazu, sich mit 62 pensionieren zu lassen. Bis dahin, seit 1979, hatte er die Sektion Luftreinhaltung in Industrie und Gewerbe des Bundesamtes für Umwelt geleitet. Nach der Analyse von Mondgestein wollte er etwas Nachhaltiges für das Leben auf der Erde tun. Damals entstand in der Schweiz das erste Umweltschutzgesetz. Anton Stettler und sein Team mussten – zusammen mit den Kollegen der kantonalen Fachstellen – die privaten Unternehmer überzeugen, die Massnahmen der Luftreinhalteverordnung umzusetzen. «Sobald die Einsicht für den Nutzen vorhanden war, ging es vorwärts. Es brauchte wie überall grosses Durchhaltevermögen. Man sollte immer das Bestmögliche tun, ohne sich zu überschätzen, sonst ist es frustrierend. Das habe ich auch mit dem Diabetes so erlebt. Mal läuft es optimal, dann schlechter.» Kritisch wurde es bei starken Hypoglykämien. Beispielsweise beim Wechsel vom tierischen zum gentechnisch hergestellten Humaninsulin. «Zudem kam mir wohl die naturwissenschaftliche Prägung in die Quere. Ich wollte unbedingt meine Blutzuckerwerte perfekt, also möglichst tief halten. Und damit stieg das Hypo-Risiko. Denn so exakt erreichte ich ja die angestrebten Werte nicht, solange ich Einzelspritzen und Pen benutzte. Als ich die erste Pumpe erhielt und die Insulinabgabe nur noch nachkorrigieren musste, wurde es sofort besser.»

Die Hypos spürte er oft erst, wenn er den Bezug zur Realität verloren hatte und beispielsweise nicht mehr wusste, wo er sich befand. «Schlimm war das. Irgendetwas klinkte im Kopf aus, wodurch die äusseren Reize nicht in logische Gedanken umgewandelt wurden. Das habe ich mehrmals erlebt. Obwohl ich eigentlich wusste, dass der relativ tiefe Langzeitzucker ein Hypo-Risiko bedeutete, wollte ich keine höheren Werte in Kauf nehmen, um die Langzeitfolgen vorsorglich hinauszuzögern. Heute tun Sensor und Pumpe ihr Bestmögliches, ich bin entlastet, genauso wie meine Familie, da ich keine schlimmen Hypos mehr habe. Das macht es noch einfacher, den Diabetes als Lebensform zu verstehen.»

 

AutorIn: Teil 1: Pierre Meyer / Teil 2: Pascale Gmür