Du bist unerwartet in mein Leben gestolpert. Du hast mich durstig gemacht und mir schlaflose Nächte bereitet. Du hast meine Kilos purzeln lassen, alles durcheinandergebracht, mein Denken verlangsamt, meine Fitness verschlechtert und meine Laune getrübt. Ich habe nicht so recht verstanden, was in meinem Körper vor sich geht, und nach Ursachen gesucht. Den wohlbekannten Stress verantwortlich gemacht und sogar die Schilddrüse beschuldigt. Aber eigentlich habe ich deine Warnsignale gekonnt ignoriert. Nun, jetzt bist es du. Diabetes. Keine kurzfristige Therapie, keine Wunderpille, kein heilender Verband. Ein Zustand, der bleibt. Also haben wir uns angefreundet, einander kennengelernt und beschlossen, zusammenzubleiben – ein Leben lang. Seit nun zwei Jahren weichst du mir nicht mehr von der Seite. Die Kennenlernphase war schon etwas ungewohnt, wenn nicht sogar anstrengend. Ich habe mich unter Druck gefühlt, da du sehr viel Raum eingenommen hast. Ich war ziemlich eingeschränkt und musste dauernd Rücksicht auf dich nehmen. Zumal ich davor zufrieden war, ohne dich. Ich liebte Schokolade, konnte mich für so Vieles begeistern, ging tanzen und feiern, wandern und reisen. Arbeitete viel, habe mich weitergebildet, Neues ausprobiert, das Leben gefeiert und die Welt entdeckt. Du, mein Lieber, hast die Handbremse gezogen und mein Leben auf den Kopf gestellt. Ein Spitalaufenthalt, Arztbesuche, Beratungen. Insulinpens und ein Glukosemonitoring. Eine Flut von Informationen, Tabellen, Terminen. Ich habe dich wohlgemerkt sofort akzeptiert und nicht ignoriert, aber die Vorstellung, das alles unter einen Hut zu bringen und mit dir klarzukommen, fühlte sich nach harter Arbeit an. Ein Spaziergang war es sicher nicht. Aber auch kein endloser Marathon. Wir haben uns Schritt für Schritt angenähert. Ich habe einige Kompromisse gemacht, habe aber auch von dir ein bisschen Nachsicht erwartet, damit du dich meinem Rhythmus anpassen kannst. Ein Neubeginn für uns beide. Zwei Schritte vorwärts, einer zurück. Gute Werte, schlechte Werte, erfolgreiche Tage, deprimierende Tage. Das erste Abendessen bei Freunden, der erste alkoholreiche Apéro, das erste Stück Kuchen, die erste Pizza. Der erste Urlaub, die erste Wanderung, die erste Erkältung und der erste Nachtdienst. All diese selbstverständlichen Dinge waren für mich plötzlich wieder neu, weil jetzt du mit dabei warst. Die Kohlenhydrate, nicht mehr wegzudenken. Das Insulin, mein Benzin für die Zellen. Snacks und Traubenzucker, meine treuen Begleiter. Der Sensor, mein permanentes Accessoire. Ich höre mehr denn je auf meinen Körper, wie er auf Stress und Emotionen reagiert, auf Entspannung, Bewegung, auf Adrenalin und Abenteuer. Was bei einer geballten Ladung Kohlenhydraten, einem Glas Wein und viel Koffein passiert. Wir verstehen uns mittlerweile gut und lernen beide stets dazu. Klar braucht es einiges an Disziplin, ein gutes Management, viel Engagement, Geduld, eine Portion Selbstvertrauen, eine Prise Mut, eine gewisse Experimentierfreude, etwas Kreativität, Achtsamkeit und Intuition. Aber niemals den Anspruch, perfekt sein zu müssen. Ich tue weiterhin alles, was mich glücklich macht. Genussvoll Essen und Spass haben. Reisen, wandern und die Welt entdecken – mit dir!

IRENE STELLT SICH VOR

Ich bin Irene (41). Im Sommer 2022 wurde bei mir Typ-1-Diabetes diagnostiziert. Zwei Monate zuvor hatte ich mein Nachdiplomstudium abgeschlossen. Zwei Monate danach habe ich mit dem Rucksack die kleine griechische Insel Paros bereist. Ich arbeite Vollzeit im Schichtbetrieb als Expertin Anästhesiepflege und verbringe die Freizeit gerne in der Natur. Ich lebe definitiv kein ideales Diabetikerleben. Ich habe unregelmässige und lange Arbeitszeiten, kurze Pausen, bin oft auf Reisen und häufig auch allein unterwegs. Und trotzdem bin ich seit der Diagnose zufriedener denn je. Schreiben ist eine Leidenschaft von mir. Mein Amateur-Reise- Blog «Liebesbriefe an die Welt» hat mich inspiriert, das Thema Diabetes aus einer anderen Sichtweise zu betrachten. Poetisch, emotional, aber auch versöhnlich – eben wie in einem sehr persönlichen Liebesbrief. liebesbriefeandiewelt.com

AutorIn: Text: Irene Klötzli Bild: zVg