«Ihr Kind hat Diabetes Typ 1.» Mit diesem Satz bricht für Eltern eines neu diagnostizierten Kindes eine Welt zusammen. Nicht nur das betroffene Kind, sondern die ganze Familie muss ihren Alltag umstellen und den Diabetes als ständigen Begleiter akzeptieren lernen.
Etwa 3000 Kinder gibt es in der Schweiz, die an der Autoimmunkrankheit Diabetes Typ 1 leiden. Wer mit Eltern solcher Kinder spricht, hört viele unterschiedliche Schicksale und Familiengeschichten, und doch immer wieder ähnliche Sätze: «Für uns brach eine Welt zusammen» – «Wir wussten nicht, wie es weitergehen soll.»
Am Anfang Angst und Überforderung
Es ist Verzweiflung, Trauer, Angst und pure Überforderung, die aus solchen Sätzen spricht. Verzweiflung und Trauer darüber, dass das bislang doch gesunde Kind ohne lebenslange Insulinzufuhr sterben würde. Vitalität verkehrt sich in Zerbrechlichkeit, Unbekümmertheit in Sorge. Die Angst, etwas falsch zu machen, dem Körper des Kindes zu schaden, begleitet Eltern am Anfang des Weges Schritt auf Tritt, dicht gefolgt von der Überforderung im Alltag. Eltern und ihr Kind müssen innert kürzester Zeit viel Neues lernen. Es gibt kein langsames Herantasten an den Typ-1-Diabetes. Von heute auf morgen muss der Alltag neu organisiert werden.
Zeit, den Schock über die Diagnose zu überwinden oder über die Versehrtheit des eigenen Kindes zu trauern, bleibt da keine. Ab sofort müssen Kohlenhydrate ausgerechnet, Essensinsulin dosiert und alle paar Stunden der Blutzucker gemessen werden. Was mit etwas Übung einigermassen routiniert erledigt wird, ist am Anfang anstrengend und zeitraubend. Dazu kommen viele andere Unsicherheiten: Kann ich als Mutter überhaupt weiter arbeiten? Wie funktioniert das im Hort? Im Kindsgi? Was ist, wenn ich einmal krank bin und ins Spital muss? Viele solche Fragen beschäftigen Eltern am Anfang stark, in besonderem Masse getrennt lebende Paare und Alleinerziehende.
Wie geht es dem betroffenen Kind bei all dem? Das ist stark altersabhängig. Aber ob nun ein 3jähriger ständig den Finger für einen Pieks hinhalten muss oder eine 10jährige sich täglich selber Insulin spritzen muss – die Kinder fühlen sich anfangs komplett fremdgesteuert und in ein enges Regelkorsett gepresst. Viele lehnen sich dagegen auf, wenn nicht jetzt, dann später. Machtkämpfe rund ums Essen – ob heimliches Naschen oder Essenverweigerung nach injiziertem Essensinsulin – kennen fast alle betroffenen Familien. Auch regelrechte Diabetes-Krisen, in denen das Kind sich gegen alles wehrt und dem Diabetes am liebsten den Rücken zukehren würde, gehören dazu und fordern von den Eltern viel Energie, Liebe und Fingerspitzengefühl für ihr Kind. Nicht alleine zu sein ist da extrem wichtig.
Der Diabetes kann schnell zu einem allzu bestimmenden Faktor im Familienleben werden und Beziehungen definieren. Wir neigen dazu, für vieles, was schief läuft, den Diabetes verantwortlich zu machen. Auf der anderen Seite steht der Anspruch, im Diabetes-Management alles ständig perfekt zu machen. Da wird jeder zu hohe Wert zu einem persönlichen Tiefschlag. Die Herausforderung für Eltern besteht darin, eine gute Balance zu finden: Einerseits den Diabetes ernst nehmen, anderseits der Krankheit keinen zu dominanten Platz einräumen.
Die Eltern müssen auch lernen, schrittweise Verantwortung an ihr Diabeteskind zu übertragen und ihm zu vertrauen. Das fällt nicht immer leicht, gibt aber dem Kind das wichtige Gefühl der Selbstbestimmung zurück. Die Kinder lernen, Aufgaben konsequent zu erfüllen und in einem Mass Verantwortung für sich und ihre Gesundheit zu übernehmen, das die Fähigkeiten Gleichaltriger und so mancher Erwachsener um ein Weites übersteigt. Viele Diabeteskinder überraschen denn auch mit ihrer Reife.
Grosses Thema Schule
Der Diabetes-Alltag hört nicht an der Haustüre auf. Je nach Alter des Kindes müssen Schule, Kindergarten, Kindertagesstätte, Hort, Mitschüler informiert und instruiert werden, ebenso Trainer, Leiter von Freizeitaktivitäten, Grosseltern, Gspönli des Kindes und deren Eltern. Diese Informationen sind wichtig, denn das Wissen über Diabetes Typ 1 ist bei Nichtbetroffenen kaum vorhanden und wird oft mit verharmlosenden Fakten und Vorurteilen zum viel weiter verbreiteten Diabetes Typ 2 vermischt.
Gerade die Schule, in der ein Kind einen Grossteil seines Tages verbringt, ist im Zusammenhang mit Diabetes ein riesiger Themenkomplex, der Eltern wie Lehrpersonen belastet. Wie viel Verantwortung trägt das Kind? Wobei helfen die Lehrpersonen und wobei nicht? Prüfungen und hohe Werte, Hypos, Sporttag, Schulreisen, Lager, Geburtstagskuchen von Klassenkameraden: Das sind nur einige Stichworte zu Fragen, die sich im Zusammenhang mit der Schule immer wieder stellen. Bei all diesen Fragen ist eine ehrliche und offene Kommunikation zwischen Schule und Familie zentral. Bei Problemen oder Konflikten empfiehlt es sich für Eltern, sich zuerst die mögliche Verunsicherung der Lehrpersonen noch einmal vor Augen zu führen und gemeinsam in einem schriftlichen Dokument die einzelnen Verantwortlichkeiten Punkt für Punkt zu klären. Sind die Eltern selber noch zu verunsichert, ist es auch sinnvoll, sich externe Unterstützung zu holen. Die Schule muss den Diabetes nicht managen, aber sie ist dazu verpflichtet, auf spezielle Bedürfnisse von Kindern, zum Beispiel eben eines solchen mit Typ-1-Diabetes, einzugehen.
Emotionale Unterstützung
In der Zeit unmittelbar nach der Diagnose ist es ungemein wichtig, dass die Familie emotional aufgefangen wird. Viele Gefühle gilt es zu bewältigen: Angst, Wut, Ohnmacht, Verunsicherung, Schuldgefühle («Haben wir etwas falsch gemacht?»), Selbstwertgefühl des Kindes. Den emotionalen Themen wird besonders in der Zeit der Diagnosestellung nicht immer genügend Rechnung getragen: Während an den einen Institutionen Psychologen standardmässig beigezogen werden, wird an anderen dieser Bereich kaum beachtet. Umso wichtiger ist es, dass die Eltern und die Kinder möglichst schnell die Möglichkeit haben, sich mit anderen Betroffenen zu vernetzen (siehe «Austausch mit Betroffenen»).
Beziehung zum Diabetologen, zur Diabetologin
Eine wichtige Rolle nimmt der Diabetologe oder die Diabetologin ein, wird er oder sie doch die Familie und das Kind über lange Zeit betreuen. Neben dem Fachwissen ist das Zwischenmenschliche mindestens so wichtig: Die Bereitschaft, zu der Familie ein Vertrauensverhältnis aufzubauen und die Therapie individuell auf das Kind und seine Bedürfnisse abzustimmen, ist ganz zentral. Wenn ein Kind Angst vor der nächsten Diabetes-Kontrolle hat, läuft etwas schief …
Fachwissen
Für viele Eltern ist es auch wichtig, sich ein relativ grosses Fachwissen anzulesen. Zu empfehlen sind folgende Bücher: Ragnar Hanås: «Type 1 Diabetes in Children, Adolescents and Young Adults» und Gary Scheiner: «Think like a Pancreas» (beide englisch), Hürter, von Schütz, Lange: «Kinder und Jugendliche mit Diabetes». Auch das Internet ist für viele Eltern eine wichtige Quelle. Gerade in den USA organisieren und tauschen sich viele Eltern in Online-Communities und Foren aus. Aus dem Internet bezogene Informationen sollten auf alle Fälle immer kritisch hinterfragt werden. Seiten, die Heilung versprechen oder nur auf alternative Heilmethoden setzen, sind definitiv unseriös.
Austausch mit Betroffenen
Eltern von Kleinkindern sind mit anderen Sorgen konfrontiert als Eltern von Kindern im Schulalter oder von Jugendlichen. Für viele Familien ist es ganz massgebend, zu erleben, dass sie in all diesen Phasen nicht alleine sind und sie sich mit anderen betroffenen Familien austauschen können. Eltern profitieren gegenseitig von ihren Erfahrungen. Die Diabeteskinder, die im Alltag mit ihrem Diabetes normalerweise die Einzigen sind, erleben, dass auch andere Kinder ihren Blutzucker messen, Insulin spritzen, den Pumpenkatheter wechseln müssen oder das Stück Kuchen erst später essen können, weil sie gerade zu hoch sind. Der Austausch ist auch wichtig für die Geschwister ohne Diabetes, die sich im Alltag oft hinter dem Diabetes einreihen müssen und sich häufig zurück gestellt fühlen.
Entlastungsangebote fehlen
Jobverlust, Beziehungsprobleme, Scheidung, Überlastung, Schlafmangel, Depressionen, eigene gesundheitliche Probleme oder solche weiterer Kinder können Eltern zusätzlich zur Belastung durch den Diabetes an ihre Grenzen bringen. In solchen Momenten wäre es sehr wichtig, betroffene Familien punktuell zu entlasten, indem etwa die fachgerechte Betreuung des Diabetes zuhause für eine gewisse Zeit gewährleistet ist. In der Schweiz gibt es leider diesbezüglich (noch) keine spezifischen Angebote.
Es geht weiter
Ein Kind mit einer chronischen Krankheit zu haben, ist belastend. Und trotzdem geht das Leben weiter, mit dem Diabetes. So schwierig es am Anfang auch sein mag: Wer diese Krankheit als ständigen Begleiter und nicht als Belastung annimmt, wird auch wieder Mut und Zuversicht gewinnen.
Die Autorin ist Mutter eines Typ-1-Diabetes-Kindes und Vizepräsidentin desVereins «Swiss Diabetes Kids»
Angebote für Familien mit einem Typ-1-Diabetes-Kind
Der Verein «Swiss Diabetes Kids» begleitet und unterstützt betroffene Familien in der ganzen Deutschschweiz. Swiss Diabetes Kids bietet verschiedene regionale Elterntreffs (zum Teil mit Referaten von Fachpersonen) an und organisiert regelmässig gesellige Anlässe wie zum Beispiel Familienweekends, Grillplausch und vieles mehr für die ganze Familie.
Über die Webseite www.swissdiabeteskids.ch können Eltern Fragen stellen und vom Erfahrungsschatz der Mitglieder profitieren.
Verschiedene Regionalgesellschaften von diabetesschweiz weisen auf ihren Webseiten auf spezielle Angebote für Kinder hin.
Die «Stiftung Kinderhilfe Sternschnuppe » bietet betroffenen Familien eine Sternschnuppe-Karte, mit der verschiedene Freizeitinstitutionen kostenlos besucht werden können.