In jedem Lebensalter, so auch bei Kindern und Jugendlichen, ist die genetische Komponente bei der Entwicklung eines Diabetes Typ 2 sehr wichtig. «Dann gilt es ganz besonders, die Riskofaktoren der Auslösung von Diabetes zu vermeiden», betont Professor Dr. med. Urs Zumsteg, Chefarzt Ambulante Medizin und Leiter Endokrinologie/Diabetologie, Universitäts- Kinderspitäler beider Basel (UKBB)

In der Öffentlichkeit ist Diabetes mellitus Typ 2 (T2DM) als «Altersdiabetes » bekannt. Herr Professor Zumsteg, ist es eine neuere Entwicklung, dass T2DM bereits im Kindes- und Jugendalter auftreten kann?

Es ist tatsächlich so, dass T2DM parallel zum häufigeren Vorkommen von Übergewicht (Adipositas) nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch bei Kindern und Jugendlichen häufiger diagnostiziert wird. Denn auch in dieser Altersgruppe wird die Insulinresistenz vor allem durch das Übergewicht hervorgerufen. In jedem Lebensalter ist beim Typ 2 die genetische Komponente sehr wichtig. Hierbei spielt der ethnische Hintergrund eine grosse Rolle: Zum Beispiel sind Menschen aus Mitteleuropa viel seltener betroffen als Menschen aus Lateinamerika, Sri Lanka oder der Mongolei. Kinder aus Sri Lanka beispielweise können schon bei leichtem Übergewicht einen Diabetes entwickeln, und meist hat auch schon zumindest ein Elternteil einen Diabetes.

Wichtig zu erwähnen ist zudem, dass es heute medizinische Richtlinien gibt, die zu einem frühen Zeitpunkt im Leben zur Diagnose führen können.

Kündigt sich bei Kindern ein Diabetes Typ 2 ähnlich an wie ein Typ 1?

Die Symptome sind nie so fulminant wie beim Diabetes Typ 1 und auch weit weniger konstant. Die Polyurie (erhöhte Urinausscheidung) und Polydipsie (starker Durst) zeigen sich schleichend und werden lange durch die Flüssigkeitsaufnahme kompensiert. Die ketoazidotische Entgleisung kann wohl vorkommen, ist aber extrem selten, weil das Insulindefizit ja eher relativ ist – und nicht so absolut wie beim T1DM.

Was kann – neben der genetischen Komponente und dem Übergewicht – die Entwicklung einer Insulinresistenz fördern?

Es kann in seltenen Fällen vorkommen, dass die Insulinresistenz durch andere Faktoren quasi «prädestiniert » ist, so zum Beispiel bei Kindern, die zu klein und/oder zu leicht bezogen auf das Gestationsalter zur Welt kommen. Oder später wird die Insulinresistenz durch gewisse Krankheitsbilder beeinflusst, die bei Mädchen respektive jungen Frauen mit einer erhöhten Produktion männlicher Hormone einhergehen (z. B. polyzystisches Ovarialsyndrom). Ausserdem gibt es eine Reihe von Medikamenten, welche eine Insulinresistenz hervorrufen können, allen voran eine hochdosierte und länger dauernde Cortisontherapie.

Ist bekannt, wie viele Kinder und Jugendliche T2DM haben?

Ich kenne keine entsprechende Statistik. In unseren Breitengraden dürften etwa zwei bis drei Prozent aller diabetischen Kinder und Jugendlichen einen Diabetes Typ 2 haben. Diese Zahl entspricht auch unserem Patientengut am UKBB. In mittelamerikanischen Ländern oder auch in den USA ist der Anteil sicher höher, laut Fachliteratur sind es in den USA aktuell bis zu 40 Prozent der an Diabetes erkrankten Kinder. Auch werden von dort die gleichen diabetischen Spätkomplikationen wie bei Erwachsenen beschrieben, sie würden sich sogar schneller respektive früher entwickeln (v. a. die Herz-Kreislauferkrankungen).

Wie verläuft die Therapie bei Kindern mit T2DM?

Ähnlich wie in der Erwachsenenmedizin: Kontrolle der Nahrungsmittel, Förderung der körperlichen Aktivität, dann Medikamente wie Metformin, später Insulin. Einige der Typ-2-Antidiabetica sind für Kinder und Jugendliche noch nicht zugelassen bzw. klinisch geprüft.

Welchen Herausforderungen begegnen Sie bei der Therapie dieser Kinder?

Das hängt sehr vom Leidensdruck der Patientinnen, Patienten und deren Familien sowie von deren Umgang mit Übergewicht respektive mit Diabetes ab. Wir versuchen, die Kinder in einer Gruppentherapie mit Ernährungsberatung und Physiotherapie/körperlicher Aktivität zu integrieren, genauso wie alle anderen adipösen Kinder und Jugendlichen. Wir versuchen, bei Patientinnen und Patienten mit Prädiabetes oder Diabetes zu betonen, dass gerade für sie aus Stoffwechselgründen – und damit für ein langes Wohlbefinden – eine Gewichtsabnahme sehr wichtig wäre. Manchmal gelingt’s, manchmal nicht. Es braucht einen gewissen individuellen Leidensdruck, welcher bei den Kindern und Jugendlichen oft durch die soziale Ausgrenzung verursacht wird.

Könnten Sie von einem konkreten, selbstverständlich anonymisierten Fall berichten, bei dem die medizinische Begleitung erfreulich verlief?

Wie alle Kinder dieser Familie kam auch der 14-jährige Jugendliche mit einer seit langem bestehenden Adipositas (BMI > P99,5*) zu uns. Im Glukosetoleranztest zeigten sich schon früh auffällige Werte im Sinne einer Glukoseverwertungsstörung. Mit ansteigendem Körpergewicht und Glukosewert entwickelte der Jugendliche einen ausgeprägten Diabetes mellitus Typ 2 mit einem HbA1c-Wert bis zu 9,7 %. Und dies trotz frühem Therapiestart mit Metformin. Daraufhin wechselten wir zu einer Insulintherapie, die ihn so sehr beeindruckte, dass er von da an sein Leben komplett änderte, mit viel Bewegung und deutlich reduzierter Kalorienzufuhr. Er ass schliesslich so wenig, dass wir uns diesbezüglich schon wieder Sorgen machen mussten. Insgesamt nahm er 20 kg Gewicht ab und wir konnten die Insulintherapie wieder beenden.

Der Jugendliche hat uns auch gezeigt, dass Adipositas und Anorexie zwei Seiten einer Medaille sind, die beide zu der grossen Gruppe der Essstörungen gehören.

Bei diesem Jugendlichen mussten wir irgendwann heftig gegensteuern, da er anfing, sich bewusst hypokalorisch zu ernähren mit maximal 500 kcal pro Tag, was natürlich auf die Zeit hinaus genauso gefährlich ist.

* Der BMI errechnet sich aus der Körpergrösse im Verhältnis zum Körpergewicht. Die Perzentilzahl (P) bezeichnet eine Prozentangabe: Sie gibt an, wie viele der in Studien untersuchten Kinder und Jugendlichen weniger wiegen. Perzentil 99,5 bedeutet zum Beispiel, dass 99,5 % der Kinder oder Jugendlichen im selben Alter weniger wiegen.

«Wir erfassen in der Adipositas-Sprechstunde sehr früh ein Risikoprofil und erkennen damit auch früh eine sich anbahnende diabetische Stoffwechsellage.»

Ist Diabetes Typ 2 bei Kindern, falls früh entdeckt, heilbar?

«Heilbar» ist ein grosses Wort in der Diabetologie. Man kann sicher eine sehr lang anhaltende Remission erwirken, also einen nichtdiabetischen Zustand, aber die genetische Veranlagung bleibt. Es gilt, die Risikofaktoren der Auslösung zu vermeiden, was langfristig oft sehr schwierig ist.

Das UKBB bietet eine Adipositas- Sprechstunde an. Geht es auch darum, Kinder mit einer Veranlagung zu T2DM möglichst früh kennenzulernen und mit präventiven Massnahmen zu beginnen?

Das ist so, wir erfassen in der Adipositas- Sprechstunde sehr früh ein Risikoprofil und erkennen damit auch früh eine sich anbahnende diabetische Stoffwechsellage. Bei Risikopatienten bestimmen wir drei- bis viermal jährlich die HbA1c-Werte und machen ein- bis zweimal jährlich einen Glukosetoleranztest. So sehen die Kinder und Jugendlichen, dass wir es ernst nehmen und uns um sie sorgen. Dann begreifen sie manchmal auch selbst, worum es geht.

Welche Aufklärungsarbeit bräuchte es bei Eltern oder in Schulen?

Es ist das bekannte Lied der Gewichtskontrolle respektive der Vermeidung von Übergewicht. Da T2DM oft in Familien mit Migrationshintergrund vorkommt, sind therapeutische Ansätze nicht nur sprachlich, sondern auch kulturell schwierig anzugehen. Kindergärten und Schulen haben ja viel in Ernährungslehre und körperliche Aktivitäten investiert, man erreicht die eigentlichen Risikogruppen aber oft zu wenig. Immerhin scheint die Zahl der übergewichtigen Kinder und Jugendlichen in den meisten Kantonen zu stagnieren.

AutorIn: Interview: Pascale Gmür