Jede Familie reagiert anders auf besondere Herausforderungen, zu denen der Alltag mit einem diabetischen Kind zweifellos zählt. Wo liegen die Unterschiede und wie lassen sich diese ausgleichen? Damit befasst sich die Bigna Brunner, Sozialarbeiterin am Inselspital Bern.
Interview: Pascale Gmür mit Bigna Brunner
Bigna Brunner ist als Sozialarbeiterin FH in der Frauenklinik und auf der Kindermedizin des Inselspitals Bern tätig.
Frau Brunner, Sie haben in der Sozialberatung der Kinderklinik unter anderem Familien mit einem diabetischen Kind begleitet. Wo sehen Sie als Sozialarbeiterin die Herausforderungen für diese Familien?
Diabetes ist, wie alle chronischen Erkrankungen, durch ihre Dauer, Behandlungsintensität und ihre psychosozialen Auswirkungen gekennzeichnet. Eine besondere Herausforderung sehe ich in der Bewältigung des Familienalltags, der stark von der Krankheit bestimmt wird. Von betroffenen Kindern und ihren Angehörigen werden grosse Anpassungs- und Organisationsleistungen verlangt, welche alle Familienmitglieder in ihren eigenen psychischen Kräften fordern. Wo Ressourcen fehlen, droht die Bewältigung in der Familie zu scheitern, was sich auf den Umgang des Kindes mit seiner Krankheit negativ auswirken kann. Zu den wichtigen Ressourcen zählen zum Beispiel: die eigene psychische Belastbarkeit der Eltern, Vorhandensein von finanziellen Mitteln, ein gesundheitsförderliches Verhalten.
Die Lebensbedingungen eines chronisch erkrankten Kindes sind von Familie zu Familie unterschiedlich.
Deshalb: Wenn ein Kind und dessen Familie mit der Bewältigung einer chronischen Krankheit konfrontiert ist, sind das Erkennen und die gründliche Erschliessung von vorhandenen Ressourcen auf persönlicher, sozialer und kultureller Ebene wichtige Schritte zur Bewältigung. Familien, welche vorhandene Ressourcen nicht effizient nutzen können, sollten zu deren Einsatz angeleitet werden (z. B. durch psychologische Begleitung). Haben Familien wenige Ressourcen zur Verfügung, sollten diese von aussen hinzugefügt werden (z. B. durch finanzielle Unterstützung). Auf diese Weise können Ungleichheiten, die zwischen den Familien nun mal bestehen, aufgefangen und die Kinder in ihren generellen Lebenschancen gefördert werden.
Kleine Kinder, die mit Diabetes Typ 1 diagnostiziert werden, können sich noch nicht selbst um das Diabetesmanagement kümmern und erkennen erst später, dass der Diabetes lebenslang bleibt.
Aber viele betroffene Eltern sorgen sich von Beginn weg, weil sie um die fehlende Aussicht auf Genesung wissen. Welchen Einfl uss hat diese Stressbelastung auf die Entwicklung des Kindes? Eine chronische Gesundheitsstörung stellt einen Risikofaktor für die Entwicklung eines Kindes dar. Im Umgang mit Anforderungen ist das Kind auf seine Eltern angewiesen. Wo diese Unterstützung aufgrund hoher Stressbelastung ungenügend ist oder wegfällt, ist sowohl die Entwicklung als auch die spezifische Bewältigung der eigenen Krankheit beim Kind gefährdet. Die fehlende Bewältigung kann sich wiederum negativ auf die soziale Teilhabe des Kindes auswirken, die stark von der Begleitung und Förderung durch die Eltern abhängt.
Woran liegt es, wenn Familien einen guten, achtsamen Umgang mit Diabetes finden können?
Einerseits spielt das individuelle Belastungsempfinden eine wichtige Rolle. Diese fällt in verschiedenen Familien sehr unterschiedlich aus, was zu unterschiedlich hoch eingestuften Anforderungen und der entsprechenden Bewältigung führt. Andererseits ist wie erwähnt die Ressourcenlage für den Umgang entscheidend. Wo genügend Ressourcen vorhanden sind, der Rückhalt in der Eltern- und Familienbeziehung stark ist und mögliche Entlastungsangebote bereits früh genutzt werden, ist das Risiko für eine Erschöpfung geringer. Zudem können positive Erfahrungen aus der Zeit nach der Diagnosestellung zu einem gestärkten Zusammenhalt innerhalb der Familie beitragen, was sich positiv auf das Belastungsniveau auswirkt.
In welcher Form kann die Sozialberatung, z. B. in der Kinderklinik, für Familien mit einem diabetischen Kind wichtig sein?
Die Sozialberatung konzentriert sich auf die Erschliessung von Ressourcen, die Vernetzung der beteiligten Fachdisziplinen und die Vermittlung an externe Fachstellen, um eine optimale längerfristige Betreuung der betroff enen Familien zu erzielen. Sie leistet Unterstützung in der Organisation des Familienalltags und in der subsidiären Finanzierung von Entlastungsdiensten, wenn die Ressourcen der Familie dafür nicht ausreichen und eine Erschöpfung des Familiensystems droht. Für die Familien und für die Entwicklung des Kindes bedeutet es eine grosse Chance, Angebote wie jenes der Sozialberatung anzunehmen.
Sie äussern sich in Ihrer Bachelor-Thesis* zur Problematik der gesundheitlichen Ungleichheit. Was verstehen Sie darunter?
Gesundheitliche Ungleichheit bezeichnet den Umstand von ungleich verteilten Chancen auf ein Leben in Gesundheit. In sozialepidemiologischen Studien wurde erwiesen, dass Personen mit einem tieferen sozioökonomischen Status – zusammengesetzt aus Bildungsgrad, Einkommenshöhe und beruflicher Qualifikation – ein höheres Risiko haben, zu erkranken und frühzeitig zu sterben. Das individuelle Verhalten und die sozialen Verhältnisse als wechselwirkende Faktoren sind für die Gesundheitschancen massgebend. Kinder sind ganz besonders den sozialen Verhältnissen ausgesetzt, in denen sie aufwachsen, und können somit kaum Einfluss auf gesundheitsrelevante Faktoren nehmen. Damit sind nicht nur ihre Gesundheitschancen, sondern auch ihre soziale Teilhabe im Verlauf des Lebens gefährdet.
Sie fordern eine gesundheitliche Chancengleichheit. Welche Rolle kann hier die Sozialberatung einnehmen?
Die Sozialberatung im Spital, als einer von vielen Bereichen der Sozialen Arbeit, kann dazu beitragen, auf die zwar bestehende, jedoch eher wenig bekannte Problematik von ungleichen Gesundheitschancen hinzuweisen. In der interdisziplinären Zusammenarbeit kann die Sozialarbeiterin ihre Rolle der «Anwältin» einnehmen, die sich für die sozialrechtlichen Ansprüche und für die Gleichbehandlung der Patientinnen und Patienten einsetzt, wenn diese aufgrund mangelnder Ressourcen nicht eigenständig dazu in der Lage sind. Zudem kann sie betroffenen Familien konkrete Unterstützungsmöglichkeiten vermitteln, mit denen sozialisationsbedingte Muster durchbrochen werden können. Das kann die Verfestigung von gesundheitlicher Ungleichheit verhindern. Mit dem Einsatz ihres breiten Wissens zu möglichen Angeboten, Organisationen und Institutionen leistet die Sozialberatung einen Beitrag zur Förderung der sozialen Integration von Kindern mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung.
* Literatur: Bigna Brunner: Chronische Krankheit bei Kindern. Auswirkungen sozialer Benachteiligung auf das Bewältigungsgeschehen im Familiensystem. Bachelor-Thesis, Berner Fachhochschule Soziale Arbeit, 2020.