Von einem Diabetes betroffen sind nicht nur Jugendliche in der Pubertät, die mitten in der hormonellen Umstellung stehen, sondern immer wieder auch Kinder im Primarschulalter und zunehmend auch sehr junge Kinder zwischen Säuglingsalter und vier bis fünf Jahren.

In der Schweiz erkranken jährlich ca. 250 Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren neu an einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus Typ 1. Bei der grossen Mehrheit dieser Kinder zeigen sich zu Beginn die typischen Symptome wie «viel Trinken» und «häufiges Wasserlösen» (oder platschvolle Windeln resp. erneutes nächtliches Einnässen), was dann zum Arzt-/ oder Spitalkontakt führt.

Akzeptanz der Diagnose
Die Diagnose Diabetes und die Vorstellung, dass das eigene zuvor noch ganz gesunde Kind nun an einer chronischen Krankheit leidet und sein ganzes Leben lang Insulin spritzen muss, ist immer ein Schock. Viele Eltern können und wollen das in der ersten Zeit nicht verstehen und brauchen Zeit. In den ersten Tagen, Wochen und Monaten durchlaufen die Eltern, aber auch gerade Jugendliche selbst, die 5 Phasen der Akzeptanz der chronischen/bleibenden Krankheit. Nach der initialen Verdrängung («das kann doch nicht wahr sein!») kommt die Phase der Wut und Aggression («Wieso gerade unser Kind?»). Viele Sorgen und Aengste stürzen auf die Eltern ein und werden in der Folge auch oft aufs Kind projiziert. In der 3. Phase des Verhandelns keimen Hoffnungen auf alternative Heilmethoden oder Wunderheilungen auf, aber der Diabetes vom Typ 1 mit primärer Insulinbedürftigkeit ist da und wird bleiben! In der Phase der Trauer fallen viele Eltern und auch jugendliche Patienten in ein Loch, wenn man realisiert, dass eben diese Diabetes-Diagnose da ist und als Begleiter im ganzen Leben bleiben wird. Wie in den vorigen Phasen ist es hier ganz wichtig, Hilfe von aussen zu haben und sich auch mit Fachpersonen und anderen Diabetes-Betroffenen auszutauschen. Die letzte Phase ist die Akzeptanz, wo Eltern und Kinder resp. Jugendliche gelernt haben, dass man auch mit dem Diabetes gut leben kann, dass das Familienleben genau so vielseitig und aktiv möglich ist und dass man auch mit der Diagnose Diabetes positiv in die Zukunft schauen kann. Dieser Prozess ist nicht einfach und dauert je nach Konstellation Wochen bis Monate, manchmal aber auch Jahre lang. Wenn Eltern die Krankheit bald nach Diagnose akzeptieren können und den Kindern zeigen, dass (unter Einhaltung von gewissen Regeln im Alltag) ganz gut mit dem Diabetes weitergelebt werden kann, dann haben alle einen wichtigen Schritt auf einem guten weiteren Weg gemacht.

Schritte zur Selbständigkeit
Neben den obigen Phasen der Verarbeitung und Akzeptanz der Diagnose müssen Eltern und Kinder/Jugendliche selbst gleich von Anfang an viel Neues lernen und zahlreiche medizinische Handlungen (Blutzucker messen am Finger, Insulin spritzen etc.) an ihrem Kind selbst durchführen. Auch das braucht Ueberwindung und Akzeptanz auf beiden Seiten! Je nach Alter des Kindes wird initial das komplette Diabetes-Management durch die Eltern durchgeführt. Die frühe Mitbeteiligung des Kindes resp. zunehmende Uebernahme von Teilschritten der Diabetesmassnahmen durch das Kind oder den Jugendlichen selbst sind sehr wertvoll. Das kann zu Beginn sein, zu entscheiden, welcher Finger gerade benutzt wird oder welche Farbe die Lanzette heute hat, mit der gestochen wird. Wie viele sonstige Entwicklungsschritte im Leben eines Kindes geübt und erprobt werden müssen, so ist auch die Uebernahme der Blutzuckerkontrollen und des selbständigen Spritzens ein kontinuierlicher Prozess. Die Mischung von aufmerksamer Begleitung und zulassen von Freiräumen ist ein Balanceakt. Sehr geeignet dazu sind zB. all die Momente, wo das Kind/Jugendliche allein und ohne Eltern etwas unternehmen möchte, zB beim Kollegen übernachten, mit Familie vom besten Freund in die Ferien fahren oder allein an einem Lager teilnehmen. In solchen Momenten machen viele Kinder grosse Schritte in der Uebernahme von Selbstverantwortung – und als Eltern muss man die Kinder dann (mit entsprechender Vorbereitung) machen und entscheiden lassen…! Denn je mehr wir Eltern dann eingreifen, desto weniger lernen unsere Kinder für ihr eigenes Leben.

Segen und Fluch der Technik
Aktuell leben wir in einer Phase, wo mit technischen Möglichkeiten vieles im Leben eines Diabetespatienten besser monitorisiert, dokumentiert und gesteuert werden kann.
All die Glucose-Sensoren und Insulinpumpen mit gegenseitiger Koppelung und Steuerung durch intelligente Algorithmen im Closed Loop Modus bieten, je nach Akzeptanz der Geräte durch den Betroffenen, eine grosse Erleichterung, da das Diabetesmanagement nun zu einem grossen Teil automatisch gesteuert ist. Für viele Eltern, Patienten und Familien ist das eine erhebliche Erleichterung im Alltag, andere und v.a. Teenager steuern aber ihre Bedürfnisse auch lieber wieder ganz allein und selbständig mit BZ-Messgerät und Peninjektionen und ohne weitere «Verkabelung». Auch solche Entscheide von Jugendlichen gilt es zu akzeptieren, da dies ein aktiver eigener Entscheid des Patienten selbst ist.
Gerade der Wunsch der Eltern – und manchmal auch der Schule – ein Kind ständig mittels Glucosesensor “zu überwachen” kann heikel sein. Das Kind wird u.U. zu sehr “ferngesteuert” und die technischen Möglichkeiten, den Sensorglucoseverlauf ständig als Follower zu beobachten, machen aus vielen Eltern dann “Helikopter-Eltern”, welche jede Schwankung sorgenvoll mitverfolgen und den Glucoseverlauf ständig im Auge haben wollen. Zum Teil kommen heute auch Forderungen der Schulen nach ständiger online-Kontrolle der Diabetesbelange durch die Eltern hinzu, womit eine gewisse Mitbetreuung eines Kindes während der Schulzeit auf technischer Ebene abdelegiert wird. Rechtzeitig im Primarschulalter müssen daher Eltern und Kinder zusammen mit dem Diabetesteam Schritte in die Selbständigkeit immer wieder besprechen und die Zügel schrittweise etwas lockerer lassen. Schlussendlich ist es ja Ziel, dem jugen Diabetespatienten mehr und mehr Selbstverantwortung und Selbstkompetenz und damit auch Eigenständigkeit und Freiheiten zu ermöglichen.

Verantwortung übergeben
Loslassen ist für Eltern immer wieder schwierig. Von diabetologischer Seite her muss hier öfters eine «Phase der nicht-optimalen Einstellung» in Kauf genommen werden. Aus all den nicht perfekten Momenten, den kleineren Hypos nach zu mutiger Korrekturinsulingabe oder auch mal einer beginnenden Ketoacidose mit Uebelkeit bei zu lange liegendem Pumpenkatheter kann man Lerneffekte gewinnen, die den Erfahrungsschatz des adoleszenten Diabetespatienten grösser und vielseitiger werden lassen. In dieser Altersphase sollten Eltern und Jugendliche klar miteinander besprechen, wer und wann einen Glucoseverlauf auf der Sensor-App teilen und mitbeobachten darf oder eben auch nicht.

Die Uebergabe der Verantwortung für das ganze Diabetesmanagement sollte schrittweise erfolgen und innerhalb der Familie klar abgesprochen sein. Zu den Absprachen gehört auch, wieviele Hilfestellungen und Erinnerungen noch unterstützend gewünscht werden, resp. wann sie für den Jugendlichen «lästig» werden. Das elterliche Angebot, dass jederzeit bei Unsicherheiten wieder Unterstützung nachgefragt werden kann trägt zu einem offenen Umgang bei und ist viel wert. Einem Kind/Jugendlichen Verantwortung zu übergeben, heisst auch, dieses mehr Entscheidungen selbst treffen zu lassen und zu akzeptieren, auch wenn Eltern mit mehr Langzeithorizont sich um Langzeitfolgen und Hypogefahren sorgen, als Jugendliche in ihrer aktuellen Lebensphase.

Umgang mit Gleichaltrigen und Peers
Gleichaltrige spielen in der Entwicklung eines Kindes eine wichtige Rolle, sei es als Spielkamerad, Mitschülerin, im Sportverein oder in einer Peergroup. Kinder und Jugendliche wollen gleich sein wie die anderen und nicht als besonders auffallen. Gleichaltrige haben einen etwa gleichen Entwicklungsstand, man kann sich also vergleichen und voneinander lernen. Damit ein Kind mit Diabetes alles gleich mitmachen kann wie die anderen, braucht v.a. zu Beginn und beim jungen Kind etwas mehr Aufmerksamkeit und Begleitung. Kinder und v.a. Jugendliche wollen aber selbständig und ohne Spezialarrangement oder elterliche Begleitung mit anderen mithalten und sind in solchen Momenten dann oft gut bereit , Eigenverantwortung für die Diabetesbelange zu übernehmen.
Auch Kontakte zu anderen Diabetesbetroffenen können für Kids und Teens sehr wertvoll sein. Die vielfältigen Erfahrungen und der Austausch z.B. im Diabeteslager mit jüngeren, gleichaltrigen und älteren Teilnehmern und Leitern, welche auch einen Diabetes haben, sind unersetzlich für die positive Entwicklung und Identifikation mit dem Diabetes.
Gerade in einem Diabeteslager ist es also völlig «normal» einen Diabetes zu haben und auch zu Hause sollte immer das Kind mit all seine Facetten gesehen werden, nicht der Diabetes des Kindes…

Vermeiden Sie also immer, ihr Kind beim Heimkommen zuerst nach dem Glucosewert zu fragen, statt nach dem Erlebten in der Schule oder im Training etc.

Für Kinder und v.a. Jugendliche sollte der Diabetes also im Laufe der Zeit «das Normalste /Selbstverständlichste von der Welt» werden und nicht mehr das Besondere (beispielsweise bei Lehrbeginn Glucosekontrolle und Insulinpsritzen vor dem Essen als Selbstverständlichkeit), dann wird der Diabetes auch von Umwelt nicht als Problem angesehen werden, sondern als etwas, das einfach zur Person dazugehört. So what!