Mutter streitet mit Sohn

Frau Müller schaut in das liegengebliebene Diabetes-Tagebuch ihres 15jährigen Sohnes Fynn, der seit vielen Jahren an Typ-1-Diabetes erkrankt und auf eine funktionelle Insulintherapie eingestellt ist. Der letzte Eintrag ist bereits sechs Wochen alt! Sie ist besorgt, irritiert und wütend: das war anders abgesprochen. Bei Rückkehr Fynns aus der Schule stellt sie ihn zur Rede, es kommt zum Streit …

Diese oder ähnliche Situationen sind Ihnen als Eltern pubertierender Jugendlicher mit Typ-1-Diabetes wahrscheinlich bestens bekannt: Statt eines Kindes haben Sie plötzlich ein «Pubertier» zu Hause, das seine eigenen Wege gehen und Erfahrungen ohne Ihre Beteiligung machen möchte.

Pubertätsentwicklung
Pubertät passiert nicht von heute auf morgen. Zum Leidwesen vieler Eltern ist die Pubertät – schon ohne Typ-1-Diabetes – lang und oft sehr anstrengend für alle Beteiligten. Typisch für die Pubertät ist die ständige Wechselwirkung von körperlichen, geistigen, gefühlsmäßigen und sozialen Veränderungen. Die Tabelle gibt einen Überblick über verschiedenen Pubertätsphase:

Pubertätsphasen

Phase 1: Vorpubertät (ca. 11. bis 14. Lebensjahr)
Der Körper des Kindes nimmt weibliche oder männliche Züge an, sekundäre Geschlechtsmerkmale entwickeln sich.

Phase 2: eigentliche Pubertät (ca. 14. bis 16. Lebensjahr)
Die Suche nach dem eigenen Ich, der Identität des Jugendlichen beginnt, die Denkweise verändert sich. Autonomiebestrebungen werden deutlich.
Phase 3: Nachpubertät (ca. 16. bis 18. (bis 24.) Lebensjahr)
Umgestaltung der Beziehung zu den Eltern (Wiederannäherung). Hineinwachsen in die Gesellschaft.

Elterliche Sorgen
Eltern jugendlicher Diabetiker empfinden die Pubertät oft als extrem belastend. Die Sorge, dass ihr Kind, das sie nun nicht mehr kontinuierlich unter ihren Fittichen haben (können), durch die potentiell lebensbedrohliche Erkrankung Schaden nimmt, treibt sie um. Da sind zum einen die akuten Gefahren, z. B. schwere Hypoglykämien mit Bewusstseinsverlust oder aber Hyperglykämien und Ketoazidose. Zum anderen sorgt die chronische Bedrohung «Folgeerkrankungen», die durch eine anhaltend schlechte Stoffwechsellage begünstigt werden können, für schlaflose Nächte. Hinzu kommt die erschwerte Kommunikation mit dem oft wortkargen, möglicherweise kratzbürstigen Jugendlichen. Meinung und Ansichten der «nervigen» Eltern werden nun neu generell hinterfragt. Zudem ist die Denkweise eines Jugendlichen nur auf die kurzfristige Zukunft gerichtet, vorausschauendes Denken ist nicht vorgesehen. Doch keine Angst: Dieser Prozess ist notwendig und gehört zur Entwicklung zum gesunden Erwachsenen dazu.

Los-, aber nicht alleine lassen
Die Ablösung des Jugendlichen von Ihnen als Eltern und Erlangung von Autonomie ist ein wichtiges Ziel des Pubertätsprozesses. Dies bedeutet nicht, dass Ihr Kind von einem auf den anderen Tag selbständig sein wird und sein soll. Nach wie vor haben Sie als Eltern «Leitplankenfunktion»: Eine Mischung aus Freiheit erlauben und Grenzen/Regeln setzen, die je nach Bedarf in die eine oder andere Richtung gedehnt werden kann. Verantwortung wird Stück für Stück übergeben, aber die Unterstützung bleibt und ist notwendig.

Was können Sie als Eltern im ­Umgang mit pubertierenden Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes tun?
• Treffen Sie feste Abmachungen, z. B. vereinbaren Sie konkrete Zeiträume, die der Besprechung der Diabeteseinstellung gewidmet sind.
• Klare Aufgabenverteilung, z. B. tagsüber messen liegt in der Verantwortung des Jugendlichen, allfällige nächtliche Messungen werden (noch) durch Sie übernommen.
• Sprechen Sie Konsequenzen der Nichteinhaltung von Abmachungen ab.
• Trauen Sie Ihrem Kind ruhig etwas zu, aber stehen Sie als «Back-up» zur Verfügung.
• Sollte etwas schiefgehen: Besprechen und diskutieren Sie mit ihrem Kind gangbare Lösungen für das nächste Mal.
• Seien Sie da – bleiben Sie in Beziehung!
• Manchmal ist ein elterlicher Zugang zum Jugendlichen nicht möglich – hier kann psychologisches Coaching helfen, keine Scheu! Betrachten Sie das nicht als Versagen Ihrerseits!

Dr. med. Claudia Boettcher und Dr. med. Tanja Zingg

Das Diabetes-Team steht Ihnen als Eltern auch während der Pubertät mit Rat und Tat zur Seite!

Dr. med.Claudia Boettcher
Oberärztin Pädiatrische Endokrinologie / Diabetologie
INSELSPITAL, Universitätsspital Bern
Medizinische Universitätskinderklinik
Freiburgstrasse 15 / C844
3010 Bern

Siehe auch Artikel: Diabetes und Pubertät: Pubertät ist, wenn Eltern schwierig werden …