Während die einen offen über ihre Erkrankung sprechen, tun sich andere schwer damit. Zwei Betroffene berichten über ihre persönlichen Erfahrungen.

Als Serge Widmer 2003 mit 42 Jahren von seiner Erkrankung erfuhr, betrat er kein unbekanntes Terrain: Seine Grossmutter und seine Mutter litten an Diabetes, und seiner Schwester stand er bis zu ihrem Tod im Jahr 2021 im Kampf gegen einen schweren Typ-1-Diabetes zur Seite. Ihr Verlust traf ihn schwer. Im Lauf der Jahre stellte er fest, dass sich starke Emotionen auf die Erkrankung auswirken: So war es wohl kein Zufall, dass er die Diagnose kurz nach dem Tod seiner Mutter erhielt.

Auch Stress wirkte wie ein Katalysator: Aus Angst, jeden Moment zur Arbeit gerufen zu werden, schoss sein Blutzucker bereits in die Höhe, wenn er sich nur in ein Restaurant setzte – noch bevor er mit dem Essen beginnen konnte. Fast 40 Jahre arbeitete Serge Widmer als Fahrer im Strassendienst des Tiefbauamtes. Seine Arbeitszeiten? Im Winter von 3 Uhr nachts bis 11.30 Uhr und nachmittags von 16 bis 19 Uhr. Weil es von Frühling bis Herbst weniger zu tun gab, arbeitete er dann am Wochenende zusätzlich als Busfahrer. Wenn er mit den Fahrgästen ins Gespräch kam, war er in seinem Element.

Eine gesundheitsbewusste Branche

Obwohl Serge Widmer beide Berufe gern ausübte, stellten die Arbeitszeiten eine Herausforderung dar, um Mahlzeiten, Ruhezeiten, Medikamente und Insulinspritzen unter einen Hut zu bringen. Doch er fand seine Routine. «Das Medikamentenset muss immer mit – ob im Auto, in der Kehrmaschine oder im Bus. Gehe ich ohne Jacke aus dem Haus, habe ich eine Tasche dabei. Und wenn ich eine Runde mit dem E-Bike drehe, kommt diese auf den Gepäckträger.»

Aus seiner Diabeteserkrankung machte er gegenüber Vorgesetzten nie ein Geheimnis. Die Gesundheit der Mitarbeitenden wird in seiner Branche ohnehin durch regelmässige Kontrollen streng überwacht. So wurde auch sein Diabetes festgestellt. «Ein nicht kontrollierter Diabetes hätte mich den Lkw-Führerausweis gekostet», erklärt er. Bei Busfahrern wird noch genauer geprüft: «Wer die Verantwortung für 50 bis 70 Fahrgäste trägt, muss körperlich fit sein!»

Negative Reaktionen auf die Erkrankung hat er nie erlebt. Natürlich stellten Kollegen Fragen, wenn sie den Blutzuckersensor oder die Spritze sahen: «Was musst du dir spritzen? Tut das weh?» Auch das private Umfeld von Serge Widmer weiss mehrheitlich Bescheid. Beim Apéro braucht es manchmal einen Hinweis: «Könnte ich ein Glas Wasser haben? Du weisst ja, Süssgetränke sind nichts für mich …» «Ja klar, hatte ich ganz vergessen!»

Immer im Dialog

Serge Widmer ist ein offener Mensch, der auch mit Fremden gern ins Gespräch kommt. Wie einmal beim Einkaufen, als er kurz mit einem Jugendlichen sprach, nachdem ihm aufgefallen war, dass auch er einen Diabetessensor trug. Gern hätte er mehr darüber erfahren, wie er mit dem Diabetes umgeht – schliesslich wird der junge Mann sein ganzes Leben lang damit leben müssen. Auch als Busfahrer gab es so manchen Austausch mit Fahrgästen, die ebenfalls von der Erkrankung betroffen sind. So fragte er einmal einen Hockeyspieler, weshalb er mit seinem Team nicht mit einem Bier auf den Sieg anstossen wolle.

Serge Widmer mag die Menschen, und ein Kontakt ergibt sich meist wie von selbst. Weil er auch noch als Sozialreferent tätig war, setzte er sich im Tiefbauamt für Kollegen mit finanziellen oder familiären Problemen ein. Auch deshalb ist er es gewohnt, Tabus anzusprechen – und diese Funktion ermöglichte ihm, seinen ursprünglichen Berufswunsch, Lehrer, ein Stück weit nachzuholen. Trotz seiner Frühpensionierung hat er einen vollen Terminkalender: Fahrdienste für Senioren, Hausarbeit bei einem ehemaligen Kollegen, der Tetraplegiker ist, oder Unterstützung bei der Jobsuche dank seiner unzähligen Kontakte … Und seit Kurzem engagiert er sich zudem als Fahrer des kleinen Touristenzuges in seiner Stadt, ohne Stress, aber immer unter den Leuten.

Angst vor Unverständnis und Ablehnung

In der Familie von Antoine A. war Diabetes ebenfalls präsent. Er erhielt die Diagnose 2011 im Rahmen eines Gesundheits-Check-up. Da sein Vater und seine Schwester bereits vor ihm an Diabetes erkrankt und in seiner Familie mütterlicherseits Herzprobleme bekannt waren, liess er sich jedes Jahr untersuchen. In der Folge wurden ihm Medikamente verordnet und eine Veränderung des Lebensstils empfohlen.

Durch seine Anstellung im Verkauf mit verschiedenen Arbeitszeiten und nur 30 Minuten Mittagspause wurde es zur Herausforderung, genug, regelmässig, gesund und in Ruhe zu essen. Bevor er in die Pause gehen konnte, musste er auf einer anderen Etage ausstempeln, und das Gleiche galt, wenn er aus der Pause zurückkam. Ass er direkt im Geschäft, wurde er schief angesehen. Er erzählte seinen Vorgesetzten von diesen Schwierigkeiten. Der Grundtenor: «Das ist dein Problem, nicht unseres. Wenn es dir nicht passt, musst du dir eben etwas anderes suchen.»

Die negativen Erfahrungen verstärkten seine Angst vor Missverständnissen und Ablehnung. Deshalb erzählte er seinen Kollegen nicht, dass er an Diabetes litt. Ging es ihm schlecht, kümmerte sich niemand um ihn. «Aus meiner Sicht wird Diabetes in den Betrieben nicht ernst genug genommen. Als unsichtbare Erkrankung wird er gern übersehen. Deshalb braucht es Aufklärung, zum Beispiel durch Flyer oder Plakate.»

Antoine A. ging es gesundheitlich immer schlechter. 2018 benötigte er einen Dreifach-Bypass und er wurde auf Insulin eingestellt. «Mir ging es wirklich elend. Neun Monate zuvor hatte ich meinen Vater verloren», erzählt er rückblickend. «Wahrscheinlich war das der Auslöser – natürlich nicht als einzige Ursache. Doch der Tod des Vaters war unglaublich traurig für mich.» Das Team der Kardiovaskulären Rehabilitation in Le Noirmont half ihm, körperlich wie seelisch wieder auf die Beine zu kommen, und brachte ihm die Grundlagen des Diabetesmanagements und die Bedeutung einer ausgewogenen Ernährung näher.

Neue Zuversicht

Mann sitzt auf Waldboden mit hochgezogener Kapuze

Vorgesetzte und Arbeitskollegen hingegen unterstützten ihn nicht. Im Spital bekam er keinen Besuch, nicht einmal einen Kartengruss. Zurück am Arbeitsplatz stiess er auf wenig Verständnis, als er erklärte, dass er die Kühlräume meiden müsse, da er wegen seiner Herzprobleme plötzliche Temperaturwechsel nicht vertrage. Schliesslich wurde er versetzt. Er erhielt mehr Aufgaben, arbeitete oft allein und hatte grosse Angst, bei einem Zusammenbruch keine Hilfe zu erhalten.

Das fehlende Verständnis bewog ihn schliesslich, den Betrieb nach 31 Dienstjahren zu verlassen. «Ich konnte quasi zusehen, wie es gesundheitlich bergab ging. Da zog ich die Notbremse. Der Entscheid fiel mir sehr schwer, da ich immer damit gerechnet hatte, bis zur Pensionierung im Betrieb zu bleiben.» Nach anderthalb Jahren fand er eine neue Stelle im Verkauf mit regelmässigeren Arbeitszeiten. Dort fiel es ihm leichter, über seine Erkrankung zu sprechen: Die neuen Arbeitskollegen informierte er, dass es bei ihm zu einer Unterzuckerung kommen kann. Einige zeigten kein weiteres Interesse, andere hingegen fragten, wie sie ihm in diesem Fall helfen könnten. Dann gab er gern Auskunft.

Dass er am früheren Arbeitsplatz nicht gehört wurde, war umso schmerzhafter, als er zu diesem Zeitpunkt auch privat einsam war. Er hatte beide Eltern und drei seiner engsten Freunde verloren. Heute hat Antoine A. einige gute Freunde, die er regelmässig trifft, von denen aber keiner Diabetiker ist. Bei Fragen wendet er sich an seine Schwester, die seit über 30 Jahren mit der Erkrankung lebt. Ihn würde interessieren, wie andere seiner Generation mit Diabetes umgehen, ob sie am Arbeitsplatz ähnliche Erfahrungen machen wie er.

«Manchmal fühle ich mich etwas niedergeschlagen. Aber ich gebe mich nicht auf. Als mein Vater noch lebte, gingen wir oft wandern. Das mache ich auch heute noch. Fast jeden Sonntag packe ich den Rucksack und bin sechs bis sieben Stunden unterwegs.» Fernab der anspruchsvollen Kundschaft tankt er in der Natur neue Energie.

AutorIn: Martine Salomon