Mit zwölf Jahren erhält Marianne Moser die Diagnose Diabetes Typ 1, mit 40 erblindet sie vollständig. Dank fortschrittlichem Diabetesmanagement und ihrer positiven Einstellung ist Mariannes Leben bunt und voller Aktivitäten. Sie bereist die Welt und treibt leidenschaftlich gerne Sport. Das Rennradtandem, die Wanderschuhe oder die Langlaufskier sind ihre ständigen Begleiter.

Wenn Marianne Moser und ihr Partner Heinz von ihren gemeinsamen Unternehmungen berichten, gewinnt man den Eindruck, dass sie bei sich ankommen, wenn sie unterwegs sind. Das Rennradtandem ist ihre grosse gemeinsame Leidenschaft. «Mit dem Rennvelo unterwegs zu sein, gibt mir ein Gefühl von Freiheit», erklärt Marianne, die als sogenannter «Stalker» auf dem hinteren Sattel sitzt. In diesem Sommer fuhr das Paar vom dänischen Aarhus über Deutschland und Frankreich bis nach Basel. Über einen Monat lang 80 Kilometer pro Tag zurückzulegen und bis zu sechs Stunden in die Pedale zu treten, stellte die kleinste Herausforderung dar. Als viel grösser erwies sich die Schwierigkeit, das Rennvelo vorab nach Dänemark zu transportieren. So ist es in Frankreich nicht erlaubt, ein Tandem in den öffentlichen Verkehrsmitteln mitzuführen und in Deutschland nur im Nahverkehr. Und das Fahrrad per Spedition zu verschicken, hätte weit über 1000 Euro gekostet. Doch geht nicht, gibt’s nicht: Schliesslich machen die beiden nach intensiver Suche ein Unternehmen ausfindig, das das Velo für 250 Euro an Ort und Stelle bringt und bis zu ihrer Ankunft einlagert.

«Wir leben von Tag zu Tag mit dem, was in unsere Satteltaschen passt.»

Unterwegs sind Marianne und Heinz mit leichtem Gepäck. In den zwei Satteltaschen nimmt das medizinische Equipment ein Fünftel des Volumens ein. Eingepackt wird also nur das Allernötigste und sie beschliessen, sich einen Nachschub an Glukose- Sensoren per Einschreiben nachsenden zu lassen, was leider nicht funktionieren sollte. Das Päckchen kam nie an. Am Ende war es glückliche Fügung, dass Marianne mit der noch vorrätigen Ausstattung gerade bis zum Reiseende versorgt werden konnte. Ihre Zuckerwerte waren durchweg stabil und es gab keine Defekte bei den Sensoren. Sie kehrt bereichert von der Tour zurück und nimmt viele Eindrücke mit. «Heinz ist ein begnadeter Erzähler und beschreibt mir alles bis ins kleinste Detail. Ich habe dann das Gefühl, ich hätte es selbst gesehen, obwohl ich weiss, dass meine Vorstellung wohl nicht ganz der Realität entspricht», berichtet Marianne und ergänzt: «Es ist ein wenig so, als ob wir gemeinsam vor einem Kunstwerk stehen, in dem jeder etwas anderes sieht.»

Sensor und Insulinpumpe sind im neuen System gekoppelt. Das sichert stabile Langzeitwerte.

Seit einem Jahr lebt Marianne mit einem Closed-Loop-System, bei dem Sensor und Insulinpumpe via Steueralgorithmus verbunden sind. Dies bringt eine enorme Erleichterung im Alltag mit sich, vor allem nachts. Es kommt nicht mehr zur gefährlichen Hypoglykämie, weil das Insulin automatisch reguliert wird. Marianne kann endlich wieder durchschlafen und ihre Langzeitwerte sind konstant. Wenn sie intensiv Sport treibt, kann die Pumpe entsprechend eingestellt werden. Es ist die bisher beste Therapie für Marianne. Allerdings war sie mit dem vorherigen Pumpensystem autarker. Das neue, medizinisch fortschrittlichere System bedarf oft der Unterstützung durch eine sehende Person, da das Navigieren durch das Menü ohne akustische Rückmeldung äusserst anspruchsvoll ist. Für Heinz ist dies unverständlich: «Es bleibt uns ein Rätsel, wie einerseits zum Beispiel im öffentlichen Verkehr so viel für Blinde getan wird, andererseits im medizinischen Bereich die Zielgruppe von blinden Menschen mit Diabetes gänzlich vernachlässigt wird. Die Technik wäre via Spracherkennung längst parat, dass geeignete Lösungen geschaffen werden.» Und so übernimmt Heinz den komplexen Teil im Diabetesmanagement seiner Partnerin.

Als er vor neun Jahren – sie haben sich im Rennveloclub kennengelernt – mit Marianne eine Beziehung einging, hat sich sein gesamtes Leben verändert. «Die Fürsorge für Marianne ist mein Lebensinhalt geworden. » Doch umgekehrt ist auch sie sein Zugpferd. Heinz lacht: «Nie war ich sportlich breiter aufgestellt.» Bis vor ein paar Jahren sind sie zusammen noch Halbmarathon gelaufen. Heute nehmen sie es etwas gemütlicher, wagen sich aber immer noch hoch hinaus, etwa auf den Möntschelespitz von 600 auf 2000 Meter und wieder hinunter innerhalb eines Tages. Die Strecke ist selbst für geübte und sehende Wanderer nicht ungefährlich. Der Weg führt immer wieder über steinige, schmale und steile Pfade. Marianne hält sich dann hinten am Rucksack von Heinz fest und merkt sofort, wenn er unsicher wird. «Wir müssen gar nicht viel reden. Aus Vertrauen und Intuition entsteht das perfekte Zusammenspiel», erklärt Heinz. Und wenn sie den Berg bezwungen haben, geniessen sie ein Gläschen Gipfelwein. «Wir sind dann sehr stolz. Einzeln wären wir zwar schneller, doch zusammen haben wir es geschafft.» Manchmal wandern Marianne und Heinz auch mit sehenden Freunden. Diese nehmen die Strecke dann plötzlich aus einer anderen Perspektive wahr.

Innerhalb eines Gebäudes kann Marianne nicht zwischen Tag oder Nacht differenzieren. Aber draussen merkt sie den Unterschied: «Die Luft ist eine andere, wenn es dunkel ist.»

Dass nun die dunkle Jahreszeit vor der Tür steht, schränkt die beiden nur wenig ein. Ihre sportlichen Aktivitäten werden mehr in den hellen Teil des Tages verlegt. Marianne ist sogar etwas erleichtert, dass das Wetter nun kühler wird. «Dann muss man nicht mehr ganz so viel unternehmen», lacht sie. Doch sobald Schnee liegt, kommt das Langlaufen auf den Plan, was höchste Konzentration erfordert. Heinz fährt vorne, sagt Kurven, Gefälle und Unebenheiten an. Die Klassik-Loipe allein genügt der athletischen 62-Jährigen aber nicht: Sie ist auch eine begnadete Langlauf-Skaterin, wobei sie durch ein Glöckchen von Heinz über unbelebtere Pisten gelotst wird. Dann gilt es, ganz genau hinzuhören und Heinz via Gehör zu folgen. Im Winter steht zudem zwei Mal in der Woche Muskeltraining im Fitnessstudio an und gejoggt wird beinahe täglich über das ganze Jahr. Marianne und Heinz laufen meist Hand in Hand oder halten sich an einem Band, mit dem Heinz die Richtung anzeigt.

Heinz bedient die Insulinpumpe des Closed-Loop-Systems. Für Blinde ist das Menü zu komplex.

Sport ist Mariannes physischer Ausgleich und neben ihrem frohen Gemüt bestimmt einer der Gründe, dass sie nicht mit ihrem Schicksal hadert. Müsste man Marianne Moser mit drei Eigenschaften beschreiben, wären diese selbstbewusst, empathisch und aufgeschlossen. Wenn sie berichtet, strahlt sie immer und hat dabei etwas zu sagen: «Ich bin eine durch und durch positive Person. Natürlich gibt es auch dunkle Tage. Dann fällt es mir schwer zu akzeptieren, dass ich nicht mehr allein loskann, wenn mir der Sinn danach steht.» Umso mehr weiss sie um das Privileg, dass ihr Partner mit ihr durch dick und dünn geht: «Heinz ist das grösste Geschenk.» Wer Marianne und Heinz kennenlernt, versteht schnell, die beiden sind so viel mehr als die Summe ihrer Teile. Und so dürfte es kaum verwundern, dass sie sich schon wieder auf dem Sprung befinden: Dieses Mal steht Interrail auf dem Programm. Drei Länder in einer Woche – über Deutschland in die Tschechei bis nach Wien. Und auch die Suche nach einer Spedition, die das Renntandem im nächsten Frühling in die Bretagne bringt, läuft auf Hochtouren.

AutorIn: Dr. phil. Nicole Seipp-Isele