” Manchmal muss ich klar sagen, wie gut ich allein zurechtkomme”

alles gut, alles möglich

Lenny (14 Jahre)

Seit seinem achten Lebensjahr ist Lenny mit dem Diabetes vertraut und geht heute eigenständig damit um. Für ihn ist klar, dass er auch mit Diabetes alles erreichen kann, was er möchte.

Lenny kann sich gut in die Zeit als Achtjähriger zurückversetzen: Er war oft krank, konnte nicht zur Schule gehen, hatte übermässigen Durst und musste dauernd zur Toilette. Der Hausarzt machte einen Bluttest und überwies Lenny sofort ins Spital. Diagnose: Diabetes Typ 1. «Uns Eltern war eigentlich schon vorher klar gewesen, dass es nur Diabetes sein kann», erinnert sich sein Vater Thomas Raue. «Die Symptome waren eindeutig.» Dennoch war die Diagnose ein Schock für die Familie – für die Eltern fast mehr als für Lenny selbst, denn: «Ich fand es gar nicht so schlimm, weil meine Eltern damals das meiste für mich machten.»

Kontrolle in der Nacht

Mittlerweile ist Lenny 14 Jahre alt, hat eine Insulinpumpe mit kontinuierlicher Glukosemessung (CGM) und geht völlig selbstständig mit dem Diabetes um: Blutzuckerwerte checken, Kohlenhydrate berechnen, die Pumpe für die richtigen Werte programmieren, Hypos korrigieren. Als Elternteil ist es nicht immer einfach, dem Kind die Eigenständigkeit zuzugestehen. Er habe doch etwas Mühe, loszulassen, denn die Angst vor schlechten Werten oder Langzeitschäden sei da, meint der Vater. «Wenn er bei mir übernachtet, was seit der Scheidung regelmässig vorkommt, stehe ich nachts immer noch auf, um seine Werte zu kontrollieren.» Obwohl Lenny schon oft bewiesen habe, dass er den Diabetes allein gut meistert. «Ich persönlich muss darum aufpassen, dass ich ihm nicht zu viel reinrede. Ich staune immer wieder, wie gut Lenny das im Griff hat», sagt der Vater stolz. Zu Beginn des Diabetes lag die Verantwortung zu hundert Prozent bei den Eltern – «doch nun müssen wir lernen, nach und nach loszulassen».

Dazu meint der Teenager schmunzelnd: «Manchmal stört es mich schon, wenn in der Nacht mein Blutzucker kontrolliert wird. Ich finde das nicht notwendig, denn es ist ja alles gut.» Aber schlimm sei das für ihn nicht, er könne es gut nachvollziehen. Er hat gelernt, seinen Eltern klar zu sagen, wenn er etwas allein machen will. «Wenn ich Unterstützung brauche, frage ich sie natürlich. Dann helfen sie mir immer», erzählt der 14-Jährige. Der Vater ergänzt: «Es gab auch schon Momente, da hat mir Lenny das Messgerät aus der Hand genommen und gesagt: ‹Papi, ich schaff’ das allein›. Und er hatte Recht.» Thomas Raue würde nie die Blutzuckerwerte seines Sohnes auf dem eigenen Handy ablesen wollen: «Bloss nicht. Sonst wäre ich nur noch am Kontrollieren. » Lenny ist froh darüber: «Ich würde mich sehr beobachtet fühlen.»

Loslassen im Vertrauen

Thomas Raue ist stolz auf seinen Sohn Lenny und wie er den Diabetes meistert. Dennoch ist es für den Vater nicht einfach, sich zurückzuhalten, wenn es um das Diabetesmanagement geht. Das gute Gefühl, aufeinander zählen zu können, erleichtert das Loslassen.

Bald kommt er in ein Alter, in dem er in den Ausgang geht und Alkohol zum Thema wird. «Dann werde ich meinen Eltern vermutlich noch klarer sagen müssen, dass ich weiss, welchen Einfluss der Alkohol auf den Diabetes hat.» Sein Vater meint jedoch: «Ich vertraue ihm, er ist vernünftig und kann auch seinen Kollegen gut erklären, worauf er wegen seines Diabetes achten muss.» Gruppenzwang kennt der Teenager in seinem Freundeskreis zum Glück nicht: «Ich muss mich nie für etwas rechtfertigen, meine Freunde verstehen das. Seit kurzem ist Lennys ganzer Stolz sein Töffli. Obwohl ihm sein Vater auch da vertraut, meint er: «Etwas Sorgen mache ich mir natürlich schon, wenn er damit unterwegs ist.»

 

In der Badi nervt der Diabetes

Je älter Lenny wird, desto mehr gibt es Situationen, in denen er über seinen Diabetes genervt ist, beispielsweise in der Badi: «Da hat sich auch schon der Sensor abgelöst, oder ich konnte nicht mit den anderen ins Wasser, weil ich eine Unterzuckerung hatte. Manchmal spüre ich, dass ich vielleicht ein paar Nachteile gegenüber anderen habe.» Trotzdem ist er überzeugt, genauso selbstständig zu sein wie andere in seinem Alter.

Bereits kurz nach der Diagnose ging Lenny für eine Woche ins Klassenlager. Er habe jeden Tag mit den Eltern telefoniert und auch die Lehrerin habe ihm geholfen, weshalb er gut zurechtgekommen sei. Eine Sorge, die Lenny immer mal wieder hat, ist, dass er seine Geräte irgendwo liegenlassen könnte und dann – was bisher glücklicherweise nie der Fall war – in eine gefährliche Situation geraten würde. Wenn er in seine Zukunft schaut, ist er überzeugt: «Ich kann auch mit Diabetes alles erreichen, was ich möchte.» Er sei stolz auf sich. Und der Vater doppelt nach: «Ich könnte wirklich nicht stolzer auf meinen Sohn sein.» Er möchte auch anderen Eltern Mut machen. «Die Diagnose hat uns zuerst den Boden unter den Füssen weggezogen. Aber man gewöhnt sich schnell an das Leben mit dem neuen Rhythmus.» Als Eltern mache man sich sowieso immer Sorgen um seine Kinder, doch man müsse sie irgendwann selbst machen lassen, damit sie Verantwortung übernehmen. «Ich vertraue Lenny vollkommen, dass er das super machen wird.»

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“Meine Werte teile ich nur ungern mit meinen Eltern”

 

Ihre Krankheitsgeschichte beginnt früh: Im Alter von fünf Jahren war Annika bereits mehrmals an Scharlach erkrankt und jedes Mal mit Antibiotika behandelt worden. Das könnte möglicherweise der Grund sein, weshalb sich das nephrotische Syndrom entwickelte – eine Nierenerkrankung mit häufigen Rückfällen. Mit acht Jahren folgte die nächste Herausforderung: Diabetes Typ 1.

«Damals hiess es noch, es könne eine vorübergehende Erkrankung sein, da ihr Körper von den Medikamenten irritiert sei», erzählt die Mutter Annette Fisler. Am Anfang spritzte sie deshalb einzig Basalinsulin, und Annika durfte nur eine gewisse Menge an Kohlenhydraten pro Tag zu sich nehmen. «Im Nachhinein gesehen ist das schrecklich, doch damals dachten wir alle, es gehe ja wieder weg», findet Annette Fisler. Mittlerweile ist Annika 17 Jahre alt und der Diabetes bleibt.

Die Eltern mussten einerseits lernen, mit Annikas Erkrankungen umzugehen, und anderseits damit, dass Kristina, das zweite Kind, mit einer Behinderung zur Welt kam – hervorgerufen durch eine abrupte Plazentaablösung bei der Geburt. Das war noch nicht genug: Einige Jahre nach Annika wurde auch bei Kristina ein Diabetes Typ 1 diagnostiziert. «Wir haben manchmal die Blutzuckerwerte gemessen und verglichen, und plötzlich war derjenige von Kristina über 20 mmol/l», erzählt Annika.

Annika kann sich an ihre eigene Diagnose nur lückenhaft erinnern: «Ich weiss noch, dass wir mit meinem Kuscheltier das Spritzen übten.» Doch sie konnte sich lange nicht selbst spritzen, das haben ihre Eltern für sie getan. «Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, eine solche Spritze in mich zu rammen.» Erst später, als auch das Bolusinsulin hinzukam, spritzte sie sich selbst. Doch gerade in der Schule «fand ich das am Anfang echt schlimm. Aber dann hielt Mami einen Vortrag über Diabetes, um es meiner Klasse näher zu bringen», erzählt Annika. Das habe geholfen.

Annika und ihre jüngere Schwester Kristina haben beide Diabetes Typ 1.

Während Annika den Diabetes selbstständig handhabt, benötigt Kristina die Hilfe der Eltern.

 

Bild: Familie Fisler

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Eine grosse Überwindung

Mittlerweile hat sie eine Insulinpumpe mit CGM, was ihren Alltag erleichtere. Doch anfangs hatte sie oft Probleme: «Ich musste den Katheter manchmal mehrmals setzen, das stresste mich. Darum habe ich ihn, wenn er mal funktionierte, oft länger dran gelassen als ich sollte.» Mit dem Wechseln klappe es mittlerweile besser, doch: «Manchmal habe ich noch Probleme mit dem Sensor. Dann sträube ich mich, einen neuen zu setzen. Ich kann nicht erklären, wieso», erzählt Annika. «Da gibt es manchmal Diskussionen mit den Eltern.» In solchen Situationen sei es schwierig, die Kontrolle abzugeben, erklärt Annikas Mutter: «Klar muss sie lernen, selbst damit umzugehen und alles allein zu machen, trotzdem haben wir die Verantwortung und machen uns Sorgen.» Vater Daniel Fisler meint: «In manchen Situationen braucht sie noch einen Schupf.»

«Ich nerve mich ja selbst, dass ich zum Beispiel den Sensor nicht wechsle», ergänzt Annika. «Aber irgendwie stresst es mich allein schon, dass ich das überhaupt machen muss. Dann nehme ich nicht mal das alte Pflaster weg.» Manchmal möchte ihr Vater mit ihr zusammen die Werte anschauen, denn er kann diese mit seinem Handy einsehen. Das mache er allerdings nicht ohne das Einverständnis seiner Tochter. «Ich weiss, dass Papi die Werte meistens nicht einfach so anschaut. Aber es nervt mich dann schon, wenn er mich danach fragt. Weil ich weiss, dass sie nicht so gut sind», erklärt Annika. Daniel Fisler hingegen möchte das als Ansporn tun, damit sich seine Tochter vielleicht etwas mehr Mühe gibt. «Aber das nützt nicht viel, oder?», fragt er, und Annika schüttelt den Kopf.

In den letzten zwei Jahren merkten die Eltern, wie Annika sich immer mehr von ihnen ablöste. «Wir bekamen vieles nicht mehr mit», sagt der Vater. Die Eltern begleiteten sie teilweise auch nicht mehr zu den Arztterminen.

«Wir hatten das Gefühl, sowieso keinen Einfluss mehr zu haben. Darum überlassen wir das eigentlich der Ärztin, die von Annika manchmal auch zwischen den Terminen die Werte verlangt.» Doch auch das klappe nicht immer.

Viele Meilensteine geschafft

Trotz der Schwierigkeiten, die es manchmal gibt, sind die Eltern sehr stolz auf ihre Tochter. «Annika hat schon so vieles gemeistert und lässt sich nicht einschüchtern», findet Daniel Fisler. Sie hat letztes Jahr ein Praktikum absolviert, macht nun eine Lehre als Fachfrau Betreuung in einer Kita, war dieses Jahr erstmals allein in den Ferien und ist im Samariterverein. «Mit 18 möchte ich zudem gern in die Feuerwehrsanität – das geht auch mit Diabetes», ergänzt Annika. Worauf die Mutter sagt: «Was mich echt beeindruckt ist, dass sie sich nie beschwert oder rumjammert. Sie nimmt es einfach so an.»

Zwischen Stolz und Sorge

Annika (17 Jahre) hat zum Beispiel Diskussionen mit ihren Eltern, wenn sie sich sträubt, einen neuen Sensor zu setzen oder wenn die Werte nicht optimal sind. Zugleich sind die Eltern beeindruckt, wie selbstverständlich die Tochter den Diabetes annimmt.

 

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Diabetes und Pubertät

Von Dr. Stefanie Wildi, Kinder- und Jugendmedizinerin, spezialisiert in pädiatrischer Endokrinologie und Diabetologie, Praxis klein-gross, Dübendorf

 Die Pubertät ist eine besondere Lebensphase. Bereits im Alter von 7 bis 9 Jahren beginnt die Ausschüttung der sogenannten Pubertätshormone, als erstes in der Nebenniere. Es beginnt die Entwicklung der inneren und später auch der äusseren Geschlechtsmerkmale. Verhalten und Emotionen ändern sich ebenfalls, die Adoleszenz setzt ein. Diese Veränderungen sind im Gehirn nachweisbar. Die grossen, aktuellen Herausforderungen erhalten mit dem Diabetes eine weitere Dimension. Denn: Der Diabetes beinhaltet gewisse Regeln und Strukturen, damit die Blutzuckereinstellung möglichst optimal ist. Regeln und Pubertät, das passt allerdings nicht zusammen. Es geht viel mehr um das Ausprobieren, Dazugehören und Entwickeln eigener Wertvorstellungen. Der Diabetes stört hierbei gewaltig; es ist lästig, sich um die Blutzuckereinstellung zu kümmern. Gerade in dieser Phase ist es wichtig, als Eltern zuzuhören und zu schauen, wie es den Kindern wirklich geht. Grundsätzlich muss zum Diabetes gut Sorge getragen werden, um Komplikationen vorzubeugen. Zur Entlastung von Eltern und Jugendlichen lässt sich aber auch feststellen, dass es wenig zu befürchten gibt, wenn die Blutzuckerwerte nur phasenweise nicht optimal sind. Nach der Pubertät pendeln sich die Werte meist gut ein. Die Jugendlichen wollen immer mehr selbst bestimmen. Für die Eltern ist es die Zeit der Übergabe des Diabetesmanagements. Diese Abnabelung ist kein einfacher Weg.

Was können Jugendliche beachten und beitragen?

Ganz wichtig ist es, den eigenen Körper mit seinen Veränderungen kennenzulernen, ihn zu spüren, auf ihn zu hören und auf das Körpergefühl zu reagieren. Das bedeutet bei Diabetes im Besonderen: Hypoglykämien frühzeitig erkennen und entsprechend reagieren. Das Abschätzen und Berechnen der Kohlenhydrate sollte immer wieder geübt werden, um die Kontrolle über die Menge zu behalten. Auf die Eltern kannst du dich verlassen, und sie sind immer gern bereit, dir zu helfen – mit dir gemeinsam, im Team.

Was ist für Eltern hilfreich?

Selbst wenn das insbesondere in der Pubertät schwierig sein mag – es lohnt sich, möglichst klare Absprachen zu treffen: Zum Beispiel, indem Sie einen fixen Termin festlegen, um gemeinsam die Blutzuckerwerte anzuschauen und allfällige Anpassungen zu diskutieren. Das ist in Intervallen von einmal pro Woche oder häufiger empfehlenswert. Wenn die Tochter oder der Sohn unterwegs ist – sei es übers Wochenende, in den Ferien, im Ausgang – ist es gut, einen Zeitpunkt für einen Anruf oder eine Textnachricht fest zu vereinbaren. Das ist für beide Seiten entlastend: Die/der Jugendliche wird an die Kontrolle von Blutzucker und Insulinmenge erinnert und die Eltern sind beruhigt.

Welche Rolle spielt der Freundeskreis der Jugendlichen?

Echte Freundinnen und Freunde zeigen Verständnis und sind jederzeit bereit zu unterstützen – wenn es beispielsweise darum geht, auf das veränderte Verhalten bei einer Unterzuckerung hinzuweisen. Es kann auch sein, dass Jugendliche mit Diabetes froh sind um die Unterstützung aus dem Freundeskreis, falls jemand eine merkwürdige oder beleidigende Bemerkung zum Diabetes macht. Jugendliche sollen sich nicht nur in der Familie, sondern auch im Freundeskreis möglichst gut aufgehoben fühlen.

Was tun als Diabetologin oder Diabetologe?

Die Jugendlichen sollen erfahren, dass wir die «Achterbahn-Verhältnisse » während der Adoleszenz verstehen und viel darüber wissen. Die Meinung der Jugendlichen steht im Zentrum. Wir hören ihnen aufmerksam zu, akzeptieren und diskutieren ihre Ansichten. Dabei regen wir die Jugendlichen zum Mitdenken an. Denn wir wollen ihnen Freiheit und Verantwortung übertragen. Dazu gehört, das Fachwissen zum Diabetes immer wieder aufzufrischen und zu aktualisieren, um das Bewusstsein im Umgang mit dem Diabetes und zu möglichen Spätfolgen zu fördern. Wichtig sind auch Gespräche und Informationen zur Berufswahl, zur Erlangung des Führerscheins, zu Alkohol und Drogen. Insbesondere die folgende Frage hilft weiter, wenn die Beziehung zum/ zur Jugendlichen oder das Diabetesmanagement schwierig ist: «Wie kann dich das Diabetesteam unterstützen?»

Medizinische Herausforderungen in der Betreuung von Jugendlichen mit Diabetes Typ 1

Die Pubertät stellt alles auf den Kopf. Körperliche und seelische Umbrüche sowie der Drang nach mehr Selbstständigkeit und Freiheit passen so gar nicht zu einer chronischen Erkrankung wie Diabetes Typ 1. Die physiologischen Hormonschwankungen setzen die Insulinwirkung (Insulinsensitivität) herab. Dies bedeutet, dass in der Pubertät im Verhältnis zum Körpergewicht mehr Insulin notwendig ist, um eine gute Stoffwechsellage zu erreichen. Die Daten hierzu zeigen, dass das mittlere HbA1c bei Mädchen und Jungen in dieser Zeit ansteigt. Beruhigend ist, dass diese Phase vorbeigeht. Ab einem Alter von 20 Jahren verbessert sich die Blutzuckerkontrolle im Durchschnitt wieder deutlich.

Zusammenfassend geht es um folgende Aspekte:

  • Zuhören können.
  • Verstehen lernen.
  • Geduld haben.
  • Den Mut nicht verlieren.
  • Diese Lebensphase geht vorbei.

 

AutorIn: Giulia Lötscher / Fotos: Maurice K. Grünig