In der Schweiz leben etwa 500 000 Menschen mit Diabetes. Ein Netzwerk von Fachpersonen unterstützt sie in der Diabetestherapie, im persönlichen Umgang mit der chronischen Krankheit und im Verhindern von möglichen Spätfolgen. Die Patientenorganisation diabetesschweiz und die regionalen Diabetesgesellschaften tragen viel dazu bei, dass sich Diabetes gut im Alltag integrieren lässt.
Auch die scheinbar kleinen Dinge zählen. Teststreifen zur Selbstmessung des Blutzuckers gehören seit vierzig Jahren zum Leben mit Diabetes. Sie sollen nicht nur käuflich, sondern auch bezahlbar sein. Das Stück kostet zwar weniger als einen Franken, nämlich 62 Rappen, aber die regelmässige Verwendung summiert sich. Die Krankenversicherer sahen Sparpotenzial und wollten die Teststreifen denjenigen Diabetesbetroffenen, die kein Insulin benötigen, nicht mehr vergüten. Das hätte bedeutet, die Kostenübernahme von bisher 400 Streifen pro Jahr ersatzlos aus der Grundversicherung zu streichen. Hingegen war die unbegrenzte Streifenmenge bei insulinpflichtigen Menschen sowie bei Frauen mit Diabetes in der Schwangerschaft nicht in Frage gestellt. Doch auch sehr viele Betroffene mit Diabetes Typ 2, welche kein Insulin benötigen, können auf die Teststreifen angewiesen sein. Dass sie benachteiligt werden sollten, konnte die Patientenorganisation diabetesschweiz keinesfalls akzeptieren. Zusammen mit der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie (SGED) setzte sie sich erfolgreich für die Interessen der Betroffenen ein. Ab April 2021 gilt: Bei nicht insulinpflichtigen Diabetesbetroffenen werden pro Jahr 200 Teststreifen vergütet, und in medizinisch begründeten Fällen kann diese Anzahl maximal verdoppelt werden. So ist es in der Mittel- und Gegenständeliste (MiGeL) des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) festgehalten, zusammen mit der Definition der Ausnahmesituationen. Hinter diesen paar Zeilen des für viele Menschen wichtigen MiGeL-Eintrags steckt jahrelanges Engagement von diabetesschweiz.
«Weil wir als Patientenorganisation mit unserer Arbeit eine permanente Präsenz und viel Ausdauer zeigen, wurden wir vom BAG eingeladen, bei der Revision der MiGeL-Bereiche, welche den Diabetes betreffen, mitzudiskutieren», sagt Peter Diem, Präsident von diabetesschweiz. Der Berner Diabetologe und Endokrinologe konnte am runden Tisch mit Vertretern der Bundesbehörde, der Krankenversicherer, der Apotheken und der Herstellerfirmen aufzeigen, was aus medizinischer Sicht für welche Patientinnen und Patienten notwendig ist. Die fundierten Argumente überzeugten. Doch von der ersten Sitzung bis zur heutigen Definition für die kassenpflichtige Vergütung dauerte es vier Jahre.
Die Diabetes Fachberatung
Nadja Baumann hatte sich nach ihrer Berufslaufbahn als Pflegefachfrau zur Diabetesfachberaterin weitergebildet und arbeitet bei diabeteszürich an den Standorten Zürich, Winterthur und Embrach.
Sie berät und begleitet Menschen im Erwachsenenalter mit Diabetes Typ 1 oder Typ 2 sowie spezifischen Diabetesformen. «Es geht darum, mein Gegenüber zum Selbstmanagement des Diabetes zu befähigen. Weil die Krankheit, der Umgang damit und die Therapieform für jeden Menschen anders ist, braucht es nach der Diagnosestellung oder später bei auftretenden Problemen und Unsicherheiten die persönlich abgestimmte Beratung. Damit ergänze ich die Tätigkeit des Arztes, der Ärztin.» Meist sind es die Hausärztinnen und Hausärzte, welche Diabetesbetroffene der Fachberaterin zuweisen. Dann bezahlt die Grundversicherung der Krankenkasse zehn Beratungen pro ärztliche Verordnung. «Ich erhalte genügend Zeit, um mit der Klientin oder dem Klienten kleinere und grössere Veränderungen zu entwickeln. Die einzelnen Schritte zu planen und zu begleiten, ist meine wichtigste Aufgabe. Zufriedene Klientinnen und Klienten mit gut eingestelltem Diabetes – dies muss das Ziel sein.» Nadja Baumann zeigt im Gespräch mit den Betroffenen, dass sie die Lebenssituation mit der chronischen Krankheit ernst nimmt und zuhört, ohne zu werten. «Manche sind mit verletzenden Reaktionen und vermeintlich guten Ratschlägen aus ihrem Umfeld konfrontiert. Wie darauf reagiert werden könnte, ist auch ein Thema unserer Gespräche. » Sie greift oft zu Papier und Bleistift, um die geschilderte Alltagsrealität symbolisch abzubilden und neu betrachten zu lassen. Oder sie zeichnet, während sie die physischen Stoffwechselvorgänge erklärt und wie sie sich bei einer Erkältung, bei Stress, Schichtarbeit, Sport oder in den Ferien verändern. Individuelle Lebensthemen wie die Menopause oder auftauchende Ängste haben genauso Platz wie die kompetente Instruktion für die Anwendung technischer Hilfsmittel. Nadja Baumann erlebt immer wieder, dass Menschen zu Beginn der Beratungen geknickt und betrübt vor ihr sitzen und nach einer Reihe von Gesprächen selbstbewusst und freudig den Raum verlassen. «Diesen Weg mitzugehen, ist sehr schön. Meist ist es ein Prozess von drei bis fünf Monaten, bis es den Betroffenen gut geht, weil sie sich nicht mehr ausgeliefert fühlen, nachdem sie über den Diabetes und sich viel gelernt haben.»
Alle Sichtweisen einbeziehen
«Da vieles in Bundesbern entschieden wird, braucht es ein nationales Sprachrohr für die grosse Gruppe der Diabetesbetroffenen», betont Peter Diem. Diabetesschweiz ist eine besondere Patientenorganisation, da ihr auch die Schweizerische Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie (SGED) und die Beratungssektion der Diabetesfachberaterinnen und -berater sowie der Ernährungsberaterinnen und -berater angeschlossen sind. «Es ist eine unserer Stärken, dass wir sowohl die Sicht von Betroffenen und Angehörigen als auch die Sicht der professionell Betreuenden vertreten», so Peter Diem. Als Facharzt und Vereinspräsident verfügt er zweifellos über einen weiten Horizont, hat die Veränderungen und Errungenschaften für die Diabetestherapie miterlebt, weiss aber auch, dass die Patientinnen und Patienten gestern wie heute viele Fragen und Unsicherheiten haben. «Wichtig ist, dass sie geeignete Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner finden. Natürlich sind die Bedürfnisse und Wünsche individuell», sagt Peter Diem. «Die einen fühlen sich in einer Selbsthilfegruppe aufgehoben, andere brauchen allein den Facharzt und die Diabetesfachfrau. Mit dem breit gefächerten Dienstleistungsangebot von diabetesschweiz und den Regionalgesellschaften können wir allen Diabetesbetroffenen eine geeignete Unterstützung geben.»
National und regional präsent
Die Dachorganisation diabetesschweiz engagiert sich insbesondere im gesundheits- und sozialpolitischen Bereich für die Diabetesbetroffenen sowie in der Sensibilisierung der breiten Bevölkerung für das Thema Diabetes. Die zwanzig regional verankerten Gesellschaften arbeiten unmittelbar mit den Diabetesbetroffenen, zum Beispiel im Rahmen von Beratungen. Diese Angebote ergänzen die Tätigkeit der Hausärztinnen, Hausärzte, der Diabetologinnen, Diabetologen und weiterer Fachpersonen in diabetologischen Abteilungen von Spitälern. Jede regionale Diabetesgesellschaft hat ihre eigene Entstehungsgeschichte mit den daraus gewachsenen aktuellen Dienstleistungen (siehe ab Seite 28). Fast überall werden Fachberatungen und/oder Fusspflege angeboten sowie diabetologische Hilfsmittel verkauft – und zwar zum MiGeL-Preis, der von der Grundversicherung der Krankenkasse vergütet wird.
Die regionalen Gesellschaften sind eigenständig strukturiert, aber als Mitglieder von diabetesschweiz profitieren sie gemeinsam von den Anstrengungen und Erfolgen der Dachorganisation. So hat diese unter anderem in jahrelanger, hartnäckiger Kleinarbeit mit den Krankenkassen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen einen verbindlichen Tarifvertrag für die Fachberatungen ausgehandelt. «Es wird unterschätzt, welcher Aufwand dahinter steht», sagt Christine Leimgruber, Geschäftsleiterin von diabetesschweiz. «Bei uns geschieht sehr viel im Hintergrund und mit oft kleinen, aber entscheidenden Schritten. Die qualitativ gute Versorgung, welche den Diabetesbetroffenen in der Schweiz zukommt, hat auch viel mit dem Engagement unserer Patientenorganisation zu tun. Wäre das bekannter, hätten wir wohl mehr Gönnerinnen, Gönner und Mitglieder.»
Die Ernährungsberatung
Isabelle Zanella arbeitet bei diabetesbiel-bienne als Ernährungsberaterin sowie als Geschäftsleiterin und engagiert sich ehrenamtlich im Vorstand von diabetesschweiz.
«Als Ernährungsberaterin, auch wenn ich sehr lange im Metier bin, bewege ich mich auf einem Terrain, wo alle Experten sind», sagt sie schmunzelnd. Das heisst, Ernährung ist etwas tief Persönliches, mit Vorlieben und Abneigungen, mit über den Tag und die Woche verteilten Gewohnheiten. «Den Sonntagszopf lasse ich mir nicht nehmen», hört sie immer mal wieder. Viele Diabetesbetroffene, die vom Arzt oder von der Ärztin überwiesen werden, befürchten zu unrecht Verbote und Diäten. Andere möchten von sich aus etwas ändern. «Wenn die Beratungen positiv und sympathisch gestaltet sind, ist es für die meisten spannend, die Zusammenhänge zwischen Nahrungsmitteln, Bewegung, Blutzuckerwerten und Insulin kennenzulernen. Indem mir die Klientinnen und Klienten erzählen, was und wie sie essen, kann ich mich orientieren und ihnen aufzeigen, was sie Neues ausprobieren könnten. Und zwar so, dass es sich im Alltag auch wirklich umsetzen lässt.» Gut verständliche Erklärungen und eine kontinuierliche Motivationsförderung benötigten die meisten, denn etwas in der Ernährung zu verändern, sei schwierig. Die regionale Diabetesorganisation ist in einer Endokrinologie- Praxis eingemietet. Das ermöglicht eine enge Zusammenarbeit zwischen Fachärztinnen, Diabetesfachberaterinnen und Ernährungsberaterinnen. Beide Beratungen sind auf ärztliche Verordnung durch die Grundversicherung der Krankenkasse gedeckt. «Beim Diabetes Typ 2 konzentriere ich mich vorwiegend auf die Qualität der Kohlenhydrate, beim Diabetes Typ 1 zusätzlich auf die Quantität und die Koordination mit der Insulinzufuhr», erklärt Isabelle Zanella. Anhand von Lebensmittelattrappen und Bildern veranschaulicht sie, wie man sich ausgewogen ernähren kann. Ein aktuelles Thema sind die stark verarbeiteten Lebensmittel, vor allem die Fertigprodukte, die zu viel Zucker, Salz und Fett enthalten und nicht nahrhaft sind. «Mit einfachen Grundnahrungsmitteln wie Gemüse, Getreide oder Hülsenfrüchten kann man herrliche Gerichte kochen. Hingegen finden sich auf gewissen Verpackungen lange Listen von unnötigen, manchmal sogar bedenklichen Zutaten.» Solches aufzuzeigen gelingt Isabelle Zanella gut, weil sie nicht moralisiert, sondern motiviert. Auch indem sie ab und zu eine persönliche Einkaufsliste mitgestaltet. Schon so mancher Klient und so manche Klientin hat sich die Empfehlungen zu Herzen genommen und entdeckt, wie gut es tut, sich mit Frischprodukten etwas Feines selbst zu kochen.
Aktiv mitwirken
Selbstverständlich sollen sich die Voraussetzungen für ein gutes Leben mit Diabetes weiterhin verbessern. Die Patientenorganisation ergänzt die bewährten Dienstleistungen mit neuen bedarfsgerechten Angeboten wie zum Beispiel der Rechtsberatung (siehe in diesem Magazin Seite 05) oder dem neuen Fachbereich für Kinder, Jugendliche & Eltern (Seite 22). Die Adressen und regionalen Angebote sind ab Seite 28 zu finden.
«Zu unserer Tätigkeit zählt auch, möglichst viele Betroffene zu motivieren, aktiv bei uns mitzuwirken», betont Christine Leimgruber. «Es beginnt damit, dass Menschen mit Diabetes und deren Angehörige miteinander reden und ihre Erfahrungen austauschen. So würde ein Zusammenhalt entstehen. Verstärkt durch das landesweite Netzwerk unserer Patientenorganisation liesse sich noch vieles bewegen. Zum Beispiel ist es nicht in Ordnung, dass Menschen aufgrund von Diabetes bei Privatversicherungen gar nicht oder oft nur mit Vorbehalten aufgenommen werden. Obwohl man heute weiss, dass sich diese Krankheit gut managen lässt und bei guter Einstellung kaum mit Begleiterkrankungen zu rechnen ist.»
Die Medizinische Fusspflege
Irina Rutschmann ist Pflegefachfrau mit Spezialisierung in medizinischer Fusspflege und arbeitet bei diabetesostschweiz.
Auch während der Coronazeit ist sie fast ausgebucht. «Gerade für viele ältere Diabetesbetroffene, die nun schon seit vielen Monaten Kontakte meiden, ist das der einzige Termin, den sie wahrnehmen. Damit nichts Schlimmes mit ihren Füssen passiere, sagen sie mir.» Diese Selbstsorge kommt bestimmt nicht von ungefähr. Irina Rutschmann versteht es, den Klientinnen und Klienten zu vermitteln, wie wichtig die Gesundheit der Füsse ist. Meist versteckt in Socken und Schuhen geht leicht vergessen, dass sie Beachtung, Hygiene und Pflege benötigen. Wenn Menschen aufgrund ihrer Krankheit in ihren Füssen ein vermindertes Empfinden für Schmerz, Druck, Kälte, Wärme haben, braucht es geschulte Augen, um selbst kleinste Veränderungen an Haut und Nägeln wahrzunehmen. Die Haut ist bei Diabetes eher trocken und leicht verletzlich, womit kleine Eintrittsstellen für Keime entstehen mögen, was zu schlecht heilenden Wunden führen kann. «Doch das lässt sich durch eine regelmässige Kontrolle der Füsse verhindern. Ich erkenne die Problemzonen, behandle sie und versuche, die Klienten und Klientinnen einzubeziehen.» Manchmal hält sie ihnen einen Spiegel hin, um die heiklen Stellen zu erklären und sie mit den eigenen Füssen vertrauter zu machen. «Viele können beispielsweise zu Hause die Füsse regelmässig eincremen, oder sie kaufen neue Schuhe, nachdem ich darauf hingewiesen habe, dass sie zu harte oder zu kleine Schuhe tragen.» Im Kanton St. Gallen bezahlt die Krankenkasse achtzig Prozent der 63 Franken, die eine medizinische Fusspflege bei der Diabetesgesellschaft kostet.* Hierzu braucht es von der Ärztin oder dem Arzt eine Verordnung. «Für die Prävention von diabetischen Spätfolgen an den Füssen ist es wichtig, dass die Leute gern zur Fusspflege kommen und es sich alle leisten können. Selbst schon vorhandene Probleme lassen sich beheben, wenn die medizinische Fusspflege alle sechs bis acht Wochen stattfindet.» Irina Rutschmann sagt, es gebe vielen Frauen und Männern nicht nur eine Sicherheit, sondern auch ein gutes Grundgefühl, die Füsse professionell gepflegt zu wissen.
* Hinweis für Menschen mit Diabetes: Erkundigen Sie sich bei der regionalen Diabetesgesellschaft nach den Möglichkeiten der medizinischen Fusspflege und nach deren Finanzierung.