Menschen mit Diabetes erzählen von einer Zeit der Verunsicherung
Viele Menschen mit Diabetes wurden durch das neue Coronavirus verunsichert, als sie weder zur Arbeit noch einkaufen gehen sollten. Sie erlebten aber auch, wie stabilisierend soziale Beziehungen wirken, wenn die Normalität aus den Fugen gerät.
In den Städten wurde es still. Auch die Menschen in den Dörfern sprachen Mitte März von gespenstischer Ruhe. Wir sollten soziale Kontakte möglichst meiden und zuhause bleiben, um die Verbreitung des neuartigen Coronavirus einzudämmen. Viele haben mittlerweile seit Monaten kaum jemandem die Hand gegeben und zögern, Freundinnen und gute Bekannte zu umarmen. Plötzlich änderten wir die selbstverständlichen Begrüssungsrituale, obwohl es uns zu Beginn merkwürdig, ja unfreundlich erschien, bei einer Begegnung zwei Schritte zurückzugehen. Zugleich wuchs eine nie dagewesene gesellschaftliche Solidarität – mit dem stark belasteten Pflegepersonal und mit den Menschen, die nicht mehr einkaufen gehen sollten, um sich und andere zu schützen. Einerseits lernen wir neue tragfähige, soziale Netzwerke kennen, andererseits wissen wir besonders von älteren und auch jüngeren gesundheitlich beeinträchtigten Menschen, dass sie sich verunsichert und isoliert fühlen. Denn trotz Lockerung der Schutzmassnahmen bleibt die soziale Lebensqualität beeinflusst, woran uns auch Plakate oder Lautsprecherdurchsagen im Zug erinnern: «Bitte halten Sie Abstand zu anderen Menschen.» Was viele befolgen, in der Hoffnung, eine weitere Corona-Infektionswelle wenn nicht abwenden, dann doch abflachen zu können.
Sozialleben am Arbeitsplatz
Ein weiteres Mal möchte Nadja Landolt nicht erleben, dass sie der Arbeit fernbleiben muss, obwohl sie sich topfit fühlt. Mitte März war sie aus ihren Ferien zurückgekehrt, hatte sich auf das Wiedersehen mit ihren Kolleginnen gefreut, wurde jedoch abrupt aus der Arbeitswelt herausgeholt. Als sie an jenem Montag ins Chefbüro gebeten wurde, war sie erst erstaunt, dann schockiert. Ihr wurde mitgeteilt, sie müsse ab sofort zuhause bleiben, als Diabetikerin gehöre sie zur Risikogruppe für das Coronavirus. «Ich wollte unbedingt eine Erklärung unterschreiben, um auf eigene Verantwortung weiterzuarbeiten. Keine Chance. Als ich das Büro verliess, liefen mir Tränen übers Gesicht. Ich kam mir so krank vor.» Gegen dieses Gefühl half auch nicht, wenn jemand das Wort Risikogruppe zwar vermied, aber sagte, Nadja gehöre zu den speziellen Leuten. «Mir ist der Diabetes nicht anzusehen. Man soll mir gleich wie allen anderen begegnen.» Sie wurde erstmals einer Gruppe zugeteilt, die sie weder kannte noch selbst gewählt hatte. «Ich bin und habe jedoch kein Risiko, da ich keine Vorerkrankungen habe, sportlich bin und mein Blutzucker perfekt eingestellt ist. Das hat mir auch der Diabetologe bestätigt.» Im Mai erhielt sie ein Gesundheitszeugnis und darf seither wieder im Labor arbeiten. Der Arzt sagte zu ihr, sie sei auch schon davor gesund gewesen.
Nadja Landolt ist gelernte Tiermedizinische Praxisassistentin und seit fünf Jahren Medizinisch-technische Laborantin in einem veterinärmedizinischen Labor. Während der Coronakrise erhielt das Labor erstaunlich viele Aufträge. «Die Leute waren im Homeoffice wohl besonders froh um die Beziehungen zu ihren Haustieren, beobachteten sie intensiver und gingen eher zum Tierarzt,
um Auffälligkeiten abzuklären.» Die Blutproben analysieren Nadja Landolt und ihre Kolleginnen. «Ich hatte ein schlechtes Gewissen, mein stark eingespanntes Team nicht entlasten zu können. Wir können sonst immer aufeinander zählen. Schlimm war das Fehlen des alltäglichen Soziallebens, das den Beruf mehrheitlich prägt. Wir haben uns alle sehr vermisst. Positiv ist, dass sich der Arbeitgeber um uns kümmert, Infektionen im Betrieb verhindern will und ich meinen Job behalten kann.» Nadja Landolt musste daheim elektronische Dokumente kontrollieren, war unterfordert und missmutig im einsamen Homeoffice mit tagelanger Computerarbeit.
Familie und Kühe geben Halt
Schon bald mochte die 24-Jährige das Wort Corona nicht mehr hören. Da sie allein lebt, hätte sie endlos Zeit gehabt, sich in Problemen zu vergraben, doch sie ging hinaus. Joggend den Kanälen der Linth entlang, mit dem Bike hügelaufwärts, so weit es der Frühlingsschnee zuliess. Am meisten halfen ihr die Familie und die Kühe. Nadja Landolt ist mit drei Geschwistern auf dem elterlichen Bauernhof im sanktgallischen Benken aufgewachsen. Mittlerweile führen Bruder und Schwägerin den Betrieb im Tal, während die Eltern weiterhin Ende Mai mit den Milchkühen auf die Alp ziehen. Die Kühe einzustallen und zu melken, war für Nadja Landolt schon immer etwas Schönes und in der Krisenzeit besonders bedeutsam. «Sobald ich mit unseren Kühen im Stall bin, brauche ich nichts anderes und bin der glücklichste Mensch.»
Immer wieder rief sie im Labor an und bat, zurückkehren zu dürfen. Sie wurde vertröstet. «Ich habe das nur ausgehalten, weil ich in meiner Familie so gut aufgehoben bin.» Das gibt ihr die Sicherheit, offen über ihr Befinden zu sprechen. «Ratschläge brauche ich keine, aber eine gute, wertfreie Zuhörerin, wie es meine Mutter ist.» Für Seele und Körper sei es entscheidend, dass ihre Familie hinter ihr stehe, denn: «Der Diabetes liest dich und hat dich im Griff. Wenn es dir psychisch schlecht geht, reagiert der Blutzucker ungebremst.»
HILFE ZU HAUSE
Fachleute zählen zum Sozialnetz
In Krisenzeiten sollten Kontakte zu Fachpersonen beibehalten oder gesucht werden. Esther Indermaur von der Fachstelle für Psychosoziale Pflege und Betreuung der Spitex Zürich Limmat sagt: «Wir gehören zum Sozialnetz der Kundinnen und Kunden. Manche allein lebende Menschen bezeichnen die Spitex sogar als Ersatzfamilie oder als Fenster zur Welt.» Diese Rolle der Spitex hat sich mit der Corona-Pandemie verstärkt. Mehr Menschen bleiben häufig daheim und verzichten auf lieb gewonnene Rituale. Morgens im Migrosrestaurant einen Kaffee trinken, auf einer Bank die Leute beobachten, nachmittags im Coop einkaufen, mit der Kassierin reden, und dienstags mit Nachbars Hund spazieren gehen. «Es sind die scheinbar kleinen Zugehörigkeitserlebnisse, welche die soziale Lebensqualität prägen. Mit Corona ging die Chance auf Selbstbestimmung für viele Menschen verloren.»
Die Spitex-Mitarbeitenden besuchen oft Menschen in ihrem Zuhause, die der sogenannten Risikogruppe für das neue Coronavirus angehören, weil sie im Alter mehrere Erkrankungen, auch Bluthochdruck oder Diabetes Typ 2, haben. Für Fachpersonen ist im Kontakt mit Kundinnen und Kunden das Tragen von Schutzmasken selbstverständlich, aber unangenehm. «Es beeinträchtigt den Beziehungsaufbau», sagt Esther Indermaur. «Die Mimik ist wichtig, um einander auch emotional gut zu verstehen. Zudem sind schwerhörige Menschen darauf angewiesen, von den Lippen ablesen zu können.» Der Verlust von sozialen Kontakten wirkt sich auf das seelische Befinden, die körperlichen Aktivitäten, auf das Ess- und Trinkverhalten aus. Manche essen in der Einsamkeit zu viel oder zu wenig, andere konsumieren mehr Alkohol, was alles die Blutzuckerkontrolle beeinflusst. Es hilft, mit Bezugspersonen wie den Spitex-Mitarbeitenden, Diabetes-Fachpersonen, der Ärztin oder dem Arzt zu sprechen und gut verständliche Informationen zu erhalten, die es erleichtern, den eigenen Alltag zu gestalten.
Zeit für lange Telefongespräche
Wie gut Diabetesbetroffene sozial eingebettet sind, wirkt sich unmittelbar auf die Therapie aus. Das bestätigt Maria Wilders, Diabetesfachfrau bei der Beratungsstelle diabetesaargau, und ergänzt: «Die Unterstützung aus dem Umfeld sollte sich am Gegenüber orientieren und nicht bevormundend sein.» Während der Coronazeit erlebt sie, wie manche Menschen verunsichert und eingeschränkt werden, wenn ihnen Töchter und Söhne geradezu verbieten, ins Freie zu gehen. «Frage ich nach, zeigt sich dahinter die eigene Angst der jüngeren Generation vor dem Virus und auch davor, Mutter oder Vater zu verlieren.» Wenn kein erhöhtes Gesundheitsrisiko besteht, ermuntert Maria Wilders meistens dazu, sich im Freien zu bewegen, als wichtiger Teil der Diabetestherapie, um normnahe Blutzuckerwerte zu erreichen, was sich wiederum präventiv auf die Gesundheit auswirkt. «Acht von zehn Personen sehen das ein und stellen im Beratungsgespräch fest, dass sie nicht hilflos sind, sondern handeln können, indem sie die Hände vermehrt waschen und Masken tragen, wo der Abstand nicht gewährleistet ist. » Sie erkundigt sich auch immer danach, wie es zuhause läuft. «Vielen ist es gelungen, das soziale Netz zu behalten oder zu stärken, indem sie beispielsweise Telefonketten bildeten, um herauszufinden, was andere brauchen, was gut tut. Einige haben während des Lockdowns mal wieder ausgiebig telefoniert.» Maria Wilders betont, dass wir einander wohlwollend begegnen müssen. «Keine einfache Aufgabe und doch entscheidend, um Solidarität zu leben. Sonst öffnen sich soziale Gräben, ganz besonders, weil wir in der Krise stark gefordert sind. Wir wurden alle ins gleiche Boot geworfen, es reagierten nicht alle gleich, aber generell haben die Menschen neu erfahren, wie tragfähig die sozialen Netze sind.»
Ohnmacht der ungewissen Dauer
Im März wurden die Landesgrenzen geschlossen. Birgit Reutz wurde über Nacht verboten, ihren Partner, ihre Eltern und Geschwister zu sehen, die alle in Österreich wohnen. Sie lebt mit ihrer 13-jährigen Tochter Dominica in Chur, ihr Partner im österreichischen Dornbirn, nur achtzig Kilometer entfernt, aber mit einer plötzlich unpassierbaren Grenze für unverheiratete Paare. «Am Anfang haben wir noch darüber gelacht, so unwirklich war das alles», erzählt die 47-jährige Geografin und Fachhochschuldozentin. «Nach vier Wochen regte sich Wut, weil sich grenzpolitisch nichts tat. Das Schlimmste war das Ohnmachtsgefühl, nicht zu wissen, ob wir uns vor Weihnachten wiedersehen würden. » Stefan Schlenker, seit sieben Jahren ihr Partner, fügt an: «Wir sind zwei Menschen, die gut zueinander schauen, wofür es keinen Trauschein braucht. Doch das Fehlen dieses Papiers wurde uns zum Verhängnis.» Er leitet die Zirkusklassen für Kinder und Jugendliche der Dornbirner Musikschule, tritt als Kinderclown und an Events als Komödiant auf, was nun alles nicht mehr möglich war. Wodurch er viel Zeit für seine Partnerin gehabt hätte, auch um sie im neuen anforderungsreichen Alltag zwischen eigenem Homeoffice und Homeschooling der Tochter zu unterstützen. Stefan Schlenker weiss, wie gut es ist, gerade in stressigen Zeiten bei seiner Partnerin zu sein, «da ihr Blutzucker in solchen Phasen manchmal spinnt, wie wir sagen, und es ihr dann weniger gut geht». Sie bestätigt, dass «Stefan und auch meine Tochter oder Arbeitskolleginnen in stressigen Situationen manchmal früher als ich selbst spüren, wenn mein Blutzuckerspiegel tiefer ist als er sein sollte. Es sind die kritischen Situationen, in welchen ich enorm froh bin, wenn ein vertrauter Mensch bei mir ist.»
Mit zwölf Jahren wurde bei Birgit Reutz Diabetes Typ 1 festgestellt. Eine Erkrankung, die ihr im späteren Leben kaum etwas verunmöglichte. Sie reiste oft und weit, studierte und doktorierte in Naturwissenschaften, forschte vielerorts für Umweltprojekte und arbeitet nun im bündnerischen Wergenstein für die Forschungsgruppe Tourismus und nachhaltige Entwicklung. In Wergenstein befindet sich eine Aussenstelle der Zürcher Fachhochschule, wo Birgit Reutz als Dozentin beschäftigt ist. Mit dem Lockdown wurde auch dort vom Präsenz- zum Onlineunterricht umgestellt. Mutter und Tochter waren nun die meiste Zeit zuhause, glücklicherweise umgeben von einem grossen Garten. Das Sozialleben sei karg gewesen. Weil Birgit Reutz neben dem Diabetes seit einigen Jahren immer wieder Asthma hat, zählt sie sich zur Corona-Risikogruppe, weshalb sie sich zurückzog, nicht einkaufen ging und dafür kommunale Hilfsangebote beanspruchte. «Ich blieb den Corona-Anweisungen entsprechend zuhause und habe keine Leute getroffen. Dazu kamen meine Bedenken, mir könnte etwas zustossen. Plötzlich hatte ich das beklemmende Gefühl, für meine Tochter unersetzbar zu sein. Sonst zählte ich immer darauf, dass mein Partner oder meine Eltern aus Österreich jederzeit herfahren konnten.»
Endlich die Lücke schliessen
Stefan Schlenker sagt: «Als meine Laune in den Keller ging, gab es Tage, an denen ich nur so dasass und mir unnütz vorkam. Birgit musste das Ganze allein bewältigen, weshalb ich mir Sorgen um ihr Wohlbefinden machte.» Er schrieb Briefe an Bundesrätinnen und andere Politiker, um die Einreisebewilligung zu erhalten. Erfolglos. Tatsächlich war seine Partnerin sehr gefordert. Und da sie die meiste Zeit am Computer verbrachte, mit Unterrichten, Sitzungen, Koordinieren, Schreiben, war sie abends zu müde, um mit ihrem Partner zu telefonieren oder zu skypen. Während neun Wochen haben sie sich nicht gesehen, auch nicht virtuell. «Es entstand eine Lücke», sagt sie, «da wir weniger und nicht in persönlichen Gesprächen voneinander erfahren haben, was wir erlebten und dachten.» Als sie sich im Mai wieder treffen durften, weil die Grenzbestimmungen für binationale Paare und Familienangehörige gelockert wurden, hätten beide gleichzeitig fast zwölf Stunden nonstop geredet, erzählt Stefan Schlenker lachend. Sie sind glücklich, ihre Partnerschaft wieder leben zu können. Verzicht ist da und dort weiterhin notwendig. Mutter und Tochter planten für die Sommerferien eine Reise mit Interrail nach Amsterdam, Norwegen, England. «Als Zugehörige der Risikogruppe und angesichts der wechselnden Bestimmungen im Ausland mussten wir verzichten.» Wie schon auf ihre Frühlingsreise nach Paris. Dominica meint dazu bloss: «Andere müssen ja auch auf vieles verzichten.»
Birgit Reutz ist wohl durch das Leben mit Diabetes daran gewöhnt, mit Unvorhergesehenem gut umzugehen. «Es liegt mir», sagt sie, «flexibel zu sein und zu improvisieren.» «Ja», meint ihr Partner, «das ist eindrücklich. Ich habe dank Birgit gelernt, dass man vieles ausserhalb des Normalen meistern muss. Doch uns nicht sehen zu dürfen, das konnte ich schlecht akzeptieren.»