Vanilleblume und Schote

Nach 44 Jahren verabschiede ich mich mit diesem ­«d-journal» Nr. 250 von unseren ­Leserinnen und Lesern.

Sich zurückziehen, wenn das Werk vollbracht ist, das ist der Weg des Himmels.
(Lao Tse)

Doch ich verabschiede mich mit einem köstlichen, betörend süssen Duft, mit der Vanille. Vanilla planifora ist eine Orchideenart; sie stammt ursprünglich aus Mexiko und Mittelamerika. Bereits die Azteken würzten, lange vor der Entdeckung Amerikas, ihre Schokolade mit Vanille, um das Bittere des Kakaos zu mildern. Erst im 19. Jahrhundert brachten die Spanier das kostbare Gewürz nach Europa.
Die Vanille-Pflanze ist eine tropische, mehrjährige, immergrüne Kletterpflanze, die mit ihren Sprossen 10 –15 Meter hoch an schattigen Urwaldriesen in die Höhe rankt. Aus den wunderschönen gelben oder rötlichen Blüten entwickeln sich Schoten (sie sind botanisch eigentlich Kapseln). Das köstliche Aroma befindet sich im Fruchtmark und in der Fruchtwand der Schote.
Heute wird die Vanille-Pflanze auch in anderen tropischen Regionen angebaut. Gegenwärtig sind Madagaskar und La Réunion die Hauptproduzenten, und auch in Indonesien, Neuguinea und Indien gedeiht Vanille. Doch nur in ihrem Ursprungsgebiet, in Mexiko und Mittelamerika, wird die Blüte auf natürliche Weise bestäubt; denn nur dort kommen eine bestimmte Bienenart und die kleinen Kolibris vor, die die Vanille-Blüten bestäuben. In allen andern Anbaugebieten müssen die Blüten von Hand bestäubt werden, und zwar innerhalb einer ganz kurzen Zeit: das Zeitfenster für die Bestäubung beträgt einen einzigen Tag.
Die Bestäubung von Hand und die sehr aufwändige Verarbeitung der Schoten sind Grund dafür, dass Vanille, nach Safran, das zweitteuerste Gewürz der Welt ist. 2016 kostete 1 kg Vanilleschoten zwischen US$ 400.– und 450.–. Die oft grün und unreif gepflückten, noch fast geschmacklosen Stängel müssen nämlich mit Wasserdampf behandelt und danach vier Wochen lang getrocknet werden, damit sich das Aroma entwickeln kann. Damit es sich voll entfalten kann, müssten die Schoten eigentlich ganz ausreifen. Da aber die Pflanzer Angst haben vor Diebstahl oder Wetterschäden, pflücken sie die Kapseln so früh als möglich, eben oft noch grün. Um 1 kg fertig verarbeitete Vanille-Schoten zu erhalten, müssen 600 Blüten zum genau richtigen Zeitpunkt bestäubt werden. Der Preis von 1 kg Vanillearoma aus natürlichen Vanilleschoten kann bis zu US$ 1500.– erreichen.
Kein Wunder also, dass fast 90 % der weltweit verwendeten Vanillearomen künstlich sind: Denn 1 kg des 1874 erfundenen synthetischen Vanillins kostet nur US$ 10 – 20. Künstliches Vanillin wird meist aus einem Erdölprodukt, aus Guajacol, hergestellt und ist deshalb nicht nur unbestritten.
Die Azteken schrieben ihrer natürlichen Vanille eine Herz und Seele belebende Wirkung zu. Die Lateinamerikaner würzen aus diesem Grund nach wie vor Kaffee, Tee und Schokolade damit. Auch bei uns werden gute Glacen, Desserts, Kuchen, Milchgetränke und Schokolade mit natürlicher Vanille hergestellt. Und schliesslich verfeinert das Aroma auch Gemüsegerichte, oder es passt zu Geflügel-, Fisch- oder Kalbfleischgerichten. Selbst in der Parfumindustrie wird Vanillearoma verwendet. Dazu genügt künstliches Vanillearoma durchaus.
Meine peruanische Nichte bereitet einen in ihrer Heimat beliebten Vanille-Sirup zu, von dem wir statt Zucker oder Süssstoff 1 Teelöffel in 1 Tasse Tee, Kaffee oder Schokolade geben, oder sogar auch in den Karottensalat oder die Rüeblisuppe.

AutorIn: Myrtha Frick