Portrait Prof. Peter Diem

Professor Peter Diem (67 Jahre), ein anerkannter Spezialist auf dem Gebiet der Endokrinologie und der Diabetologie, wurde am 9. Juni zum neuen ­Präsidenten von diabetesschweiz gewählt. Die Übernahme dieser Aufgabe kommt in einer schwierigen Phase des Dachverbands und der ­Regionalverbände.

Professor Diems Diagnose: «Die Mehrheit der regionalen Diabetes-Verbände schrieb 2017 rote Zahlen. Und ihre Finanzlage wird sich 2019 voraussichtlich nicht verbessern, denn die Margen auf Teststreifen werden weiter schrumpfen.» Und er fügt hinzu: «Das Geschäftsmodell der Verbände funktionierte lange gut, heute entspricht es jedoch nicht mehr in allen Teilen den Bedürfnissen der Diabetiker und ihrer Versorgung.» Ein Hinweis auf diese immer grösser werdende Kluft: die Zahl der Diabetiker, die Mitglied in einem Verband sind, geht unaufhaltsam zurück. Auf nationaler Ebene ist ein Rückgang von rund 5% pro Jahr zu verzeichnen.

Strategische Überlegungen
Aus diesem Grund initiierte diabetesschweiz im vergangenen Juni gemeinsam mit den regionalen Verbänden einen Strategieprozess mit dem Ziel, neue Modelle zu entwickeln, die den heutigen Bedürfnissen der Diabetiker besser gerechter werden.
Peter Diem sieht verschiedene Gründe für den Zerfall des Verbandslebens insgesamt und insbesondere von diabetesschweiz:
1) Die Verbände waren stets eine wertvolle Informationsquelle. Heute nutzen Diabetes-Betroffene zunehmend das Internet, um sich kostenlos zu informieren, wodurch die Verbände an Bedeutung verlieren.
2) Diabetes ist in verschiedener Hinsicht eine spezielle Erkrankung, denn die Betroffenen betrachten sich häufig erst dann als «krank», wenn sie Insulin benötigen. Das bedeutet, dass viele Kranke ihr Problem lange bagatellisieren und daher natürlich auch nicht einer regionalen Diabetesgesellschaft beitreten.
3) Wenn ein Diabetiker aufgrund von Komplikationen verstirbt, die durch seine Krankheit entstanden sind, teilen die Angehörigen das meist nicht so mit, sondern ziehen es vor zu sagen, er sei an einem Herzleiden oder ähnlichem verstorben. Dadurch wird Diabetes als Todesursache heruntergespielt, und die tatsächlichen gesundheitlichen Auswirkungen der Krankheit bleiben der Bevölkerung verborgen.
4) In diesem Zusammenhang stellt Peter Diem ausserdem fest, dass es äusserst schwierig ist, Geldgeber für Diabetesanliegen zu gewinnen, was insbesondere auch auf negative Vorurteile gegenüber der Krankheit zurückzuführen ist. Ein bedauerlicher Zustand! Aus der Tätigkeit für die Schweizerische Diabetes-Stiftung kennt Peter Diem diese Problematik. Mit den Geldern der Stiftung werden sowohl Forschungsprojekte als auch ausgewählte Aktivitäten und Projekte in regionalen Diabetesgesellschaften unterstützt.

Was erwarten unsere Mitglieder von uns?
Peter Diem hat keine Patentlösung, um die doppelte Herausforderung (Mitgliederverlust und rote Zahlen) zu bewältigen, unter der die regionalen Verbände und die Dachorganisation leiden. Bestenfalls, so meint er, öffnen sich durch den Strategieprozess neue Wege für die Zukunft, wobei folgende Frage im Mittelpunkt stehen sollte: «Woran sind unsere Mitglieder bzw, Diabetes-Betroffene im Allgemeinen interessiert, insbesondere auch jüngere Betroffene?»
Und dann witzelt er: «Vielleicht bräuchten wir einen Pierre-Yves Maillard (Waadtländer Regierungsrat, verantwortlich für Gesundheit und Förderer des kantonalen Diabetes-Programms) in allen Kantonen?» Ein Ruf des Herzens, der Ausdruck einer Überzeugung ist: das Engagement der Politiker ist heute wichtiger denn je, nicht nur als Finanzquelle, sondern auch als koordinierende Kraft zwischen Gesundheitsorganisationen, Spitälern und behandelnden Ärzten.

Hin zu einem kostengünstigeren Modell?
Peter Diem ist überzeugt: «Die regionalen Diabetes-Gesellschaften müssen Geschäftsmodelle finden, die weniger Personal benötigen (also auch weniger Geld), weniger schwerfällig und anpassungsfähiger sind.» Er nimmt Zug als Beispiel, wo die Diabetesgesellschaft teilweise vom Kanton finanziert wird. Sie arbeitet eng mit dem Kantonsspitals zusammen. Für die vom Kantonsspital verkauften Teststreifen wird sie mit einem Pauschalbetrag entschädigt.
Könnte sich dieses neue Modell auch für andere Regionen eignen? Diese Frage steht im Raum, und es wird sicher lebhafte Diskussionen dazu geben. Peter Diem sieht auch in anderer Hinsicht Klärungsbedarf, denn er meint «die regionalen Diabetesgesellschaften sollten sich vor allem auf die konkrete Unterstützung der Diabetiker und auf die Sekundärprävention (=Prävention der durch Diabetes hervorgerufenen Komplikationen) konzentrieren.» Die Prävention den Diabetes mellitus (= Primärpräventio) mit Bemühungen hinsichtlich Junk-Food, Fettleibigkeit und Bewegungsarmut sollte seiner Meinung nach von der ganzen Gesellschaft geleistet werden.
Die Debatte ist angestossen. Sie ist sowohl für die Diabetesgesellschaften als auch für die Betroffenen selbst von höchster Bedeutung.

Interview mit Professor Peter Diem von Pierre Meyer

Ein waschechter Berner

Professor Peter Diem wurde im Januar 1951 in Bern geboren. Man könnte sagen, er ist Bern treu geblieben, denn er blieb während beinahe seiner gesamten Karriere in der Bundeshauptstadt, hauptsächlich am Inselspital (dem Berner Universitätsspital) tätig. Dank seines glänzenden beruflichen Werdegangs wurde er zum Leiter der Abteilung für Endokrinologie, Diabetologie und klinische Ernährung ernannt.
Als Schüler von Prof. Arthur Teuscher, einem der Mitbegründer der Schweizerischen Diabetes-Stiftung, war Peter Diem massgeblich an der Zusammenlegung von Endokrinologie und Diabetologie in den 90er Jahren beteiligt. Durch diese Zusammenlegung gelang es, die Verfechter einer intellektuellen Herangehensweise an die Krankheit und die «Pragmatiker» miteinander zu verbinden und so die Versorgung der Diabetiker zu verbessern. Peter Diem erinnert gerne an folgende Bemerkung von Prof. Teuscher: «Wenn Du ein Problem hast, frag den Patienten!» Das war seine Art zu betonen, dass Diabetiker selbst viel über ihre Krankheit wissen.
Aus seiner Erfahrung weiss der neue Präsident von diabetesschweiz, dass es in der Diabetesversorgung in den letzten dreissig Jahren drei entscheidende Fortschritte gab: die Blutzuckermessung (heute zum Teil ersetzt durch kontinuierliche Messungen), die Dosierung des Glykohämoglobins (HbA1c) und die Integration des Patienten in die Behandlungskontrolle, gerade auch dank eines besseren Verständnisses der Krankheit

Verhaltener Optimismus
Was die Diabetes-Situation in der Schweiz betrifft, so ist Peter Diem recht optimistisch. Dafür nennt er drei Gründe: «Zwar steigt die Zahl der Diabetiker weiterhin, doch das liegt vor allem an der zunehmend höheren Lebenserwartung der Bevölkerung (es ist davon auszugehen, dass ab dem Alter von 75 Jahren 10% der Bürger betroffen sind). Des Weiteren hat sich der Anstieg der Fettleibigkeit bei Frauen in der Schweiz bereits stabilisiert, dasselbe könnte in Zukunft bei den Männern der Fall sein. Und letztlich tragen die Bemühungen um Kinder ihre Früchte – Bewegung und sportliche Aktivität in dieser Altersgruppe nehmen eindeutig zu.»
All diese Gründe lassen hoffen, dass die Kurve der neuen Diabetes-Erkrankungen in der Schweiz auch bald rückläufig werden könnte, wie es bereits in Dänemark der Fall war.