Hier lesen Sie die Geschichte von Fred, Typ-2-­Diabetiker, bei dem ein Lungentumor festgestellt worden war. Es folgten Medikamente, Bestrahlung – und Risiken für starke Nebenwirkungen. Seine Frau Martha holte sich bei mir Informationen.

Älteres Paar lächelnd
Martha, Freds Frau, wollte von mir alles über die Therapie des Lungentumors wissen – und vor allem über die Behandlung möglicher Nebenwirkungen. (Symbolbild)

Beginnen möchte ich diesen Schwerpunkt mit der Geschichte eines guten Freundes, der schon seit vielen Jahren wegen eines Typ-2-Diabetes in meiner ambulanten Betreuung stand. Nennen wir ihn Fred. Medikamentös lag sein Diabetes mit 1000 mg Metformin pro Tag und einem HbA1c von 7,1 % im Therapie-Zielkorridor. Er rauchte seit mehreren Jahrzehnten 10 bis 15 Zigaretten pro Tag und war auch nicht von dieser Gewohnheit abzubringen oder bereit, sich einmal an seiner Lunge untersuchen zu lassen.
Eines Tages kam seine Frau Martha in meine Sprechstunde und weinte: Man hatte bei Fred einen Lungentumor festgestellt, der zunächst medikamentös und anschließend durch Bestrahlung behandelt werden sollte. Dabei seien auch die möglichen Nebenwirkungen der Therapie wie Übelkeit und Erbrechen zur Sprache gekommen – und Fred würde sich jetzt auch in Verbindung mit seinem Diabetes wegen der Nebenwirkungen überlegen, ob er die Therapie beginnen solle.
Im Folgenden stelle ich Ihnen kurz zusammen, was ich im Einzelnen Fred durch Martha ausrichten ließ. Nach den allgemeinen Ausführungen zum Verständnis ging ich dann auf die speziellen Probleme von Fred ein. Martha war eine eifrige Zuhörerin:

Zunächst muss man betonen, dass Übelkeit und Erbrechen ein natürlicher Schutzmechanismus des Körpers sind, der uns hilft, Giftstoffe, die in den Magen gelangt sind, wieder loszuwerden. Ohne diese sehr sinnvolle Magenentleerung hätten wir wohl den langen Weg der Menschheitsentwicklung nicht so erfolgreich durchlaufen können. Man denke insbesondere an die lange Zeit, als Hygiene, Kühlketten oder das Pökeln noch Fremdwörter waren – und nur der ständige Hunger und die Suche nach Essbarem unser Denken, Handeln und Tun bestimmten.

Erbrechen als Schutz
Übelkeit und das damit häufig verbundene Erbrechen sind ein komplizierter Prozess, der ein Zusammenspiel einer Reihe von Organen, Muskeln und Nerven voraussetzt. Im Gehirn befindet sich ein Brechzentrum, das den gesamten Vorgang koordiniert und aus dem Körper Signale oder Neurotransmitter registriert, wenn Giftstoffe in den Körper gelangt sind. An Neurotransmittern, die am Brechzentrum im Gehirn angreifen, kennen wir: Substanz P, Serotonin, Gamma-Aminobuttersäure, Dopamin und das Histamin. Alle diese Substanzen werden als Folge der Zellschädigung während einer Chemo- oder Bestrahlungstherapie vermehrt ins Blut abgegeben.

Hohe und niedrige Risiken
Dabei ist bekannt, dass einzelne Medikamente der Chemotherapie (Zytostatika) ein sehr hohes Nebenwirkungsrisiko haben und bei anderen die Wahrscheinlichkeit von Übelkeit und Erbrechen eher als niedrig einzustufen ist. Cisplatin und ­Cyclophosphamid sind Zytostatika, die als hoch emetogen (also Erbrechen auslösend) eingestuft werden. Vincristin und Vinblastin haben im Vergleich dazu ein eher niedriges emetogenes Risiko. Wichtig für die Behandlung ist auch zu wissen, ob die unterschiedlichen Zytostatika sofort nach ihrer Gabe oder erst nach ein bis zwei Tagen ihr Nebenwirkungsspektrum zeigen. Davon zu trennen sind die/das antizipatorische Übelkeit oder Erbrechen, ein Vorgang, der auf negativen Erfahrungen einer vorausgegangenen Therapie beruht. Man verbindet damit einen Gedanken, einen Geruch oder den Anblick des Krankenhauses, was zu Übelkeit und Erbrechen führt, so dass man akut unter den Symptomen leidet, obwohl man noch keine erneute Chemo-/ Bestrahlungstherapie bekommen hat.

Wer leidet weniger?
Darüber hinaus gibt es ein individuelles Risiko, ob man unter der Krebstherapie mit starken Nebenwirkungen zu rechnen hat: Eher gefährdet sind jüngere Menschen (unter 50 Jahren), Frauen sowie Patienten, die schon bei einer früheren Chemotherapie mit Übelkeit und Erbrechen zu kämpfen hatten. Kinder haben ein besonders hohes Erbrechensrisiko.
Medikamente, die seit vielen Jahren einen festen Platz in der Behandlung von Übelkeit und Erbrechen in der Krebstherapie hatten und auch noch teilweise haben, sind u. a. Metoclopramid, Haloperidol, Diazepam und Promethazin. Sie zählen zur Gruppe der Dopaminantagonisten, der Neuroleptika, der Benzodiazepine und Antihistaminika. Sie alle blockieren Rezeptoren im Brechzentrum des Gehirns, so dass die Wirkung der unter Chemotherapie freigesetzten Neurotransmitter abgeschwächt oder verändert wird. Unter Abschwächung der Wirkung ist gemeint, dass die Neuroleptika und die Benzodiazepine in ihrer Wirkung eher die Wahrnehmung verändern und vor allem auch angstlösende Effekte haben. Ihre Domäne ist in dem Zusammenhang vor allem die oben beschriebene antizipatorische Übelkeit, die vorwiegend in der gelebten Phantasie verankert ist.

Während einer Behandlung mit Kortikosteroiden sollten die Blutzuckerwerte häufiger kontrolliert werden.

Eine Sonderrolle spielen auch weiter im Medikamentenmix die Steroide: Unter diesem Überbegriff versteht man Abkömmlinge des Kortisons, die in Kombination mit anderen Antibrechmitteln oder Antiemetika deren Wirkung verstärken und deshalb als Einzelwirkstoff zur Behandlung der obigen unangenehmen gastrointestinalen Beschwerden nicht verwendet werden.
Wichtig zu erwähnen ist hier, dass Abkömmlinge des Kortisons (Kortikosteroide) zu einer Verschlechterung des Diabetes beitragen können. Sie lassen die Blutzuckerwerte ansteigen und verringern die Sensibilität gegenüber dem blutzuckersenkenden Hormon Insulin. Während einer Behandlung mit Kortikosteroiden sollten deshalb die Blutzuckerwerte häufiger kontrolliert werden. Bei Diabetikern, die bereits Insulin spritzen, muss unter Kortisonmedikation eventuell die Dosis angepasst werden.

Erbrechen: die Stars der Behandlung
Zum Schluss kommen wir zu den eigentlichen Stars in der Behandlung von Übelkeit und Erbrechen in der Tumortherapie, die seit den 1990er Jahren zu einer beeindruckenden Zunahme der Akzeptanz auch von hoch emetogenen Zytostatika beigetragen haben. Da sind zunächst die Serotonin- Rezeptor-Antagonisten; sie blockieren die oben erwähnten Serotonin-Rezeptoren, die beim Auftreten von Übelkeit und Auslösen des Brechreflexes eine wichtige Rolle spielen. Serotonin-Rezeptor- Antagonisten wirken besonders gut gegen die Übelkeit und das Erbrechen am Tag der Chemotherapie. Ihre Domäne ist nicht das verzögerte Erbrechen, das auch im Ausnahmefall erst nach 4 bis 5 Tagen nach Therapiebeginn auftritt. Von diesen Antiemetika, die auch Setrone oder 5-HT3-Antagonisten genannt werden, gibt es inzwischen einige, die sich in der Dosierung oder auch in der Form der Darreichung (zum Einnehmen, über die Haut oder als Infusion) unterscheiden. Ihr Arzt wird hier das für Sie am besten geeignete Medikament auswählen.
Substanz P ist ein Neurotransmitter, der über den Neurokinin-1-Rezeptor im Gehirn Übelkeit und Erbrechen auslösen kann. Substanz P wird in Analogie zum Serotonin vermehrt nach der Gabe einzelner Zytostatika oder unter Bestrahlung einzelner geschädigter Körperzellen freigesetzt: die Neurokinin-1-Rezeptor-Antagonisten heben im Brechzentrum im Kopf die Wirkung von Substanz P auf und helfen damit, Übelkeit oder Erbrechen unter Krebstherapie zu mildern oder zum Verschwinden zu bringen. Diese Anti-Brechmittel wirken vorwiegend auf die verzögerte Form der wiederholt beschriebenen Magen-Darm-Symptome.
Ich merkte, dass Martha jetzt eine kurze Pause brauchte – und wir plauschten etwas über dies und das, bevor ich noch einmal speziell auf meinen Freund Fred und die bevorstehende Krebstherapie einging:

Fred bekommt einen Medikamentenmix
Ich machte ihr klar, dass man Fred in Abhängigkeit von der Bestrahlung und den Zytostatika, die in seinem Fall vorgesehen seien, von vornherein einen Medikamentenmix geben werde, so dass mit dem Auftreten von Übelkeit und Erbrechen kaum zu rechnen sei.
Bei der Gabe von Kortison könne es sein, dass die Blutzuckerwerte ansteigen. Dann müsse Fred etwas häufiger eine Kontrolluntersuchung durchführen – und im Bedarfsfall könnten sie jederzeit mit mir Kontakt aufnehmen. Aber mit einer vorübergehenden Gabe von Insulin würde ich bei Fred nicht rechnen. Vor allem: Er müsse sich dringend behandeln lassen. Sein Tumor würde nicht warten, und die oben skizzierten Nebenwirkungen seien heutzutage mit der modernen Therapie von Übelkeit und Erbrechen kein Hinderungsgrund mehr für den Beginn der Behandlung.

Nur Märchen enden gut
Sie werden sicher fragen, wie die Geschichte ausgegangen ist. Wir alle wissen, dass nur Märchen in der Regel gut enden. Fred hat mehrere Therapien seines Lungentumors gut überstanden, übrigens auch Marthas gute Küche. Aber auch gewonnene Lebenszeit ist irgendwann nicht mehr verlängerbar.

Artikel erschienen im «Diabetes Journal» Deutschland, Nr. 4/2014

AutorIn: Prof. Dr. med. Reinhard Zick