Älteres Paar

Klaus Stumpf (Name geändert) ist ein 84jähriger Landwirt, der mit seiner Ehefrau zusammen im Stöckli lebt. Sein Sohn hat mit der Familie den Bauernhof vor zehn Jahren übernommen. Herr Stumpf leidet seit fünfzehn Jahren an einem Dia­betes mellitus, den er mit Tabletten und einmal täglich mit Insulin behandelt. Daneben muss er auch noch Medikamente gegen den hohen Blutdruck und gegen das hohe Cholesterin einnehmen, und wegen des kranken Herzens auch ein Aspirin täglich. Die Ehefrau berichtet, dass Herr Stumpf in den vergangenen Jahren «etwas abgebaut» habe, vergesslicher geworden sei, und auch seinen Dia­betes nicht mehr so gut im Griff habe. Der Hausarzt hat kürzlich eine leichte Demenz festgestellt. Unterzuckerungen (Hypoglykämien) sind in den vergangenen Monaten wahrscheinlich keine aufgetreten, allerdings weiss man das nicht so genau.

Diese Situation umschreibt sehr gut die Probleme, mit denen viele Diabetiker und deren Angehörige im Alter konfrontiert werden. Folgende Überlegungen stehen nun im Vordergrund:

1. Liegen sogenannte «geriatrische Handicaps» vor und (wenn ja) in welchem Ausmass?

Geldzähltest

Überprüfung von
– Hirnleistung
– Geschicklichkeit mit den Händen/Fingern
– Sehfähigkeit
– Selbstständigkeit im Alltag
– Fähigkeit zum Selbstmanagement des Diabetes mellitus

Durchführung

– Testperson soll Geld aus einem Portemonnaie nehmen und zusammenzählen
– Es wird gemessen, wie viel Zeit dazu benötigt wird, bis das Resultat richtig ist
– Abbruch nach 3 Fehlversuchen oder nach 5 Minuten

Material

– Stoppuhr
– Portemonnaie mit Bargeld, wie folgt:
– 1 Zehnernote
– 1 Zweifrankenstück
– 2 Einfrankenstücke
– 1 50-Rappenstück
– 3 Zehnräppler

Auswertung

– Unter 45 Sekunden: selbstständig
– 45 bis 70 Sekunden: unsicher
– Über 70 Sekunden: hilfsbedürftig
(Age Aging 1995/24/257-258; JAMDA 2012/13/e15-e18)


Zunehmendes Alter bringt in vielerlei Hinsicht und in unterschiedlichem Ausmass Veränderungen, die die Selbständigkeit und die Bewältigung der Anforderungen des praktischen Alltags beeinträchtigen können. Dies ist auch im Rahmen der Behandlung eines Diabetes mellitus zu berücksichtigen. Man spricht von sogenannten «geriatrischen Handicaps» und meint damit zum Beispiel einen Abbau der geistigen Leistungsfähigkeit (Demenz), psychische Veränderungen (z. B. Depression), eine eingeschränkte Sehkraft, Einschränkungen der Handfertigkeiten und vieles mehr. Folge davon ist unter anderem eine unsichere und unzuverlässige Medikamenteneinnahme. Rund 10 % unserer Betagten können Tabletten nicht aus der Blisterpackung herausdrücken und etwa 45 % können keine Flip-Top-Kappe öffnen. Dies führt bei 10 % zu falscher Medikamenteneinnahme, bei 10 % zu Untermedikation, bei 15 % zu Übermedikation.
Es ist also zu überlegen, in welchem Ausmass bei Herrn Stumpf solche Handicaps vorliegen, und wie weit er wirklich noch selbst in der Lage ist, seinen Diabetes ohne Fremdhilfe unter Kontrolle zu halten. Mit dem sogenannten Geldzähltest (siehe Kas­ten) kann der Hausarzt auf einfache Weise prüfen, ob ein alter Mensch noch ohne Fremdhilfe in der Lage ist, auch korrekt Medikamente einzunehmen, Blutzuckermessungen durchzuführen und Insulin zu spritzen. Der Test prüft die Handfertigkeit, die Sehfähigkeit im Nahbereich sowie die Hirnleis­tungsfähigkeit, mithin also alles, was zwingend notwendig ist für eine sichere Diabetestherapie.
Wenn bei Herrn Stumpf das Testergebnis schlecht herauskommt, könnte man die Apotheke bitten, die Medikamente auf Tagesdosen vorzupacken, und/oder die Ehefrau, die Spitex oder weitere Angehörige müssen die regelmässige und korrekte Einnahme der Tabletten, die Blutzuckermessung und das Insulinspritzen überprüfen oder stellvertretend für Herrn Stumpf übernehmen.

2. Wie genau soll der Diabetes eingestellt werden?
Ziel der Diabetesbehandlung ist zunächst, im Alltag den Blutzucker in einem sicheren Bereich zu halten (keine zu hohen und zu tiefen Werte). Gleichzeitig sollen langfristige Komplikationen wie Nierenschäden, Augenschäden usw. verhindert werden. Man muss sich aber bewusst sein, dass das Risiko für das Auftreten solcher Spätfolgen nur mit einer mindes­tens fünfjährigen korrekten Blutzuckereinstellung sicher reduziert werden kann. Wenn es um das Verhindern von Schlaganfall und Herzinfarkt geht, ist eine mindestens zehnjährige gute Diabeteseinstellung erforderlich. Es liegt auf der Hand, dass solche Zeitdimensionen in höherem Alter nicht mehr unbedingt eine vorherrschende Rolle spielen.
Eine intensive Blutzuckereinstellung mit optimalen Blutzuckerwerten erhöht sehr oft auch das Risiko von Unterzuckerungen. Man weiss aber, dass solche Hypoglykämien im Alter oft nicht mehr richtig wahrgenommen werden. Herzrhythmusstörungen und Verletzungen mit Knochenbrüchen und Spitaleinweisungen sind denkbare Folgen von unbemerkten schweren Unterzuckerungen.
Andererseits führen hohe Zuckerwerte (über etwa 15 mmol/l) zu Wasserverlust, nächtlichem Harndrang, Sturzgefahr (beim Gang auf die Toilette im Dunkeln) und erhöhtem Infektionsrisiko.
Deshalb ist es oft sinnvoll, bei betagten Diabetikern den Blutzucker etwas weniger «scharf» einzustellen. Oberstes Ziel ist klar das Verhindern von Unterzuckerungen.
Dr. med. Alexander SpillmannTabelle 1 zeigt dazu die entsprechenden aktuellen Empfehlungen für ältere Diabetiker. Im Falle von Herrn Stumpf würde dies als Zielwerte ein HbA1c von etwa 8 % und einen Morgenblutzucker von ungefähr 8 mmol/l bedeuten.

3. Welche Diabetesmedikamente sollen bevorzugt eingesetzt werden?
Aus dem bereits Gesagten geht hervor, dass primär Medikamente eingesetzt werden sollten, die nur eine geringe oder keine Unterzuckerungsgefahr mit sich bringen, und dass eine möglichst einfache Insulintherapie anzustreben ist (zum Beispiel Misch­insulin anstelle von zwei verschiedenen Insulinen).
Zu berücksichtigen ist aber auch eine oftmals altersbedingte und auf mehrere Ursachen zurückzuführende eingeschränkte Nierenfunktion, was die Wahl der Medikamente und deren maximale Dosis einschränkt. Die Zahl der Medikamente sollte auf das Notwendigste beschränkt werden.
Im konkreten Fall von Herrn Stumpf bedeutet dies, dass der Hausarzt die Medikamentenliste unter diesen zwei Aspekten durchgehen und die Wahl des Insulins respektive dessen Dosierung nochmals überlegen sollte.

4. Auf was soll bei der Ernährung geachtet werden?
Tabelle Die Drei Kritischen FragenViele alte Menschen sind wegen ihrer Handicaps (siehe oben) nicht mehr sicher in der Lage, sich ausreichend und vor allem auch ausgewogen zu ernähren. Dies kann Folge eines geistigen Abbaus (Demenz) sein, eines schlechten Zustands der Zähne respektive der Gebissprothesen, von Schluckstörungen, vermindertem Appetit oder Hungergefühl oder verändertem Geschmacksempfinden. Alarmsymptome für Mangel- und Fehlernährung sind ein ungewollter Gewichtsverlust über 10 % in sechs Monaten oder eine geringere Essensmenge (Tabelle 2). Dies gilt gleichermassen für Diabetiker wie für Nichtdiabetiker. Dabei muss Mangelernährung nicht unbedingt mit Untergewicht einhergehen!
Bei alleinstehenden Senioren gibt ein Blick in den Kühlschrank (sind mehr als drei frische Lebensmittel drin?) einen klaren Hinweis auf allenfalls unzureichende Ernährungsgewohnheiten.
Die Familie von Herrn Stumpf müsste bei ihm also auf eine regelmässige und ausgewogene Mahlzeiteneinnahme achten, wobei insbesondere auf Eiweisszufuhr (Fleisch, Eier, Hülsenfrüchte, Fisch, Milchprodukte) und eine ausreichende Trink­menge (1 bis 1,5 Liter pro Tag) Wert gelegt wird. Zucker ist in kleinen Mengen erlaubt, ein grösserer Bedarf sollte mit kalorien­armen Süssstoffen abgedeckt werden. Spezielle Diabeteslebensmittel sind grundsätzlich, nicht nur bei Betagten, nicht mehr empfohlen. Allenfalls sind Gebiss- oder Schluckstörungen zu klären und zu beheben. Eine abgewogene, respektive nach Kohlenhydraten berechnete, Nahrungszufuhr ist bei Betagten sicher eine übertriebene Massnahme.

5. Und sonst?
Bewegung gilt auch im Alter als Eckpfeiler der Dia­betestherapie. Tägliche Spaziergänge sind deshalb genauso empfohlen wie eine regelmässige Kontrolle der Fusspflege und des Schuhwerks. Gerade bei Betagten wirken sich Druckstellen und Wunden an den Füssen besonders verheerend aus. Sie heilen schlechter, beeinträchtigen zusätzlich die Mobilität und die Selbständigkeit, was sich wie ein Teufelskreis wiederum negativ auswirkt auf die Ernährung, das allgemeine Wohlbefinden sowie die Gesundheit und bei Alleinstehenden auch zu Vereinsamung führen kann.

AutorIn: Dr. med. Alexander Spillmann