Junge Frau und viele Apps-Icons

Smartphones und sogenannte «Wearables» (darunter versteht man Armbanduhren oder Armreifen mit eingebautem Computer, welche sich zum Beispiel mit dem Smartphone verbinden können) stellen eine vielversprechende Erweiterung der Behandlungswerkzeuge bei Diabetes dar. Dies beruht auf der Möglichkeit, Smartphones und Wearables mit spezialisierten Computerprogrammen, sogenannten «Apps» auszustatten.
Der nachfolgende Artikel geht auf diese neuen digitalen Möglichkeiten ein, beschreibt deren Vor- und Nachteile und gibt konkrete Hinweise, worauf bei der Wahl einer Diabetes-App geachtet werden soll.

Einleitung
Diabetes stellt betroffene Personen und deren Angehörige tagtäglich vor wichtige Entscheidungen: Kann ich mit diesem Blutzucker zum Mittagessen gehen? Wann soll mein Kind während der Schulzeit sein Insulin spritzen? Soll ich meine Insulinpumpe vor dem Abendtraining abstellen oder lieber währenddessen zusätzlichen Zucker essen? Wie kann meine Freundin merken, dass ich in der Nacht eine Unterzuckerung habe und Hilfe benötige?
Zwar lassen sich die allermeisten Probleme im Alltag von Menschen mit Diabetes und ihren Angehörigen mit der «richtigen» Dosis an Insulin oder zuckerhaltigen Nahrungsmitteln beheben. Allerdings ist das Herausfinden der «richtigen» Dosis ein oftmals schwieriger Entscheidungsprozess, welcher ein hohes Mass an zeitlicher Organisation, Kenntnis über die Wirkung von Medikamenten und Nahrung, Wissen über den eigenen Körper und eine gute Einschätzung des weiteren Tagesablaufs erfordert.

Diabetes-Apps
In den letzten zehn Jahren hat sich ein besonderer Alltagsgegenstand als unverzichtbares Organisationstalent hervorgetan: Das Smartphone. Durch die Möglichkeit, tausende unterschiedliche Anwendungen (Apps) zu installieren, lässt sich der Funktionsumfang des Smartphones an beinahe alle persönlichen Anforderungen anpassen. Dies gilt auch für die Unterstützung von an Diabetes erkrankten Personen und deren Angehörigen.
«Dia­betes-Apps», so heissen die vielfältigen kleinen Computerprogramme, die sich beispielsweise um die Übertragung von Blutzuckerwerten von Kindern auf das Smartphone ihrer Eltern kümmern, Insulindosen für Mahlzeiten berechnen oder an die demnächst notwendige Einnahme von Medikamenten erinnern. Der Fantasie sind bei der Entwicklung von Diabetes-Apps keine Grenzen gesetzt. Eine einfache Schlagwortsuche nach dem Begriff «Diabetes» ergibt in den grossen Online-stores (Google Play Store® und iTunes®) knapp 400 Apps. Dies zeugt von einem grossen Angebot an Hilfestellungen, welche in so gut wie allen Problembereichen in der Diabetes-Behandlung Unterstützung anbieten, bildet aber gleichzeitig das Hauptproblem von Diabetes-Apps: Es gibt noch kaum geltende Qualitätsstandards. Oftmals ist es unmöglich zu unterscheiden, was eine «gute App» ist und was eine weniger gute. Gerade das Berechnen einer Insulindosis, zum Beispiel, bedarf grosser Genauigkeit, kann ein Zuviel an Insulin doch rasch zu Schwäche bis hin zu Ohnmacht führen.

Wozu werden Diabetes-Apps benutzt?
Diabetes-Apps versprechen Unterstützung in unterschiedlichen Aspekten der Diabetes-Therapie, die für betroffene Personen und deren Angehörige oftmals schwierig zu managen sind. Die angebotenen Funktionen sind vielfältig: Von allgemeiner Wissensvermittlung zum Thema Diabetes, händisch geführten oder automatisierten Blutzucker-Tagebüchern, Ernährungstagebüchern, Fitness-Trackern, und Medikamenten-Remindern bis hin zu komplexeren Rechnern für Insulindosen und den Zuckergehalt gängiger Mahlzeiten – es gibt kein Problem im Alltag von Menschen mit Diabetes und deren Angehörigen, für das man nicht auch eine App findet, welche dieses Problem zu lösen scheint. So tönt zumindest das Versprechen der Hersteller.
Eine aktuelle Untersuchung hat ergeben, dass 64 % aller jugendlichen Typ-1-Diabetiker/-innen das Internet als Informationsquelle für ihre Erkrankung nutzen. In Notsituationen nutzen 5 % aller Jugendlichen Internetforen oder Diabetes-Apps als Entscheidungshilfe und ganze 67 % der befragten Jugendlichen verlassen sich auf Diabetes-Apps in «heiklen» Situationen wie mittelschweren Unterzuckerungen oder Unterzuckerungen während der Nacht.

Verbessert die Verwendung von Diabetes-Apps die Blutzuckerwerte?
Eine gross angelegte Untersuchung schloss knapp 1 000 Kinder und Erwachsene mit Typ-1- oder Typ-2-Diabetes ein. Diese benutzten 11 verschiedene Diabetes-Apps. Die Programme vermittelten Wissen zu ausgewählten Diabetesthemen, Motivation im Diabetesalltag, Tipps zu Ernährung und Fitness, boten Platz für Speicherung von Blutzuckermesswerten und Insulindosen, erinnerten rechtzeitig an die Medikamenten-Einnahme, halfen bei der Berechnung der notwendigen Insulindosis für Mahlzeiten und ermöglichten automatisches Übermitteln von Blutzucker-Messwerten an medizinisches Fach­personal. Es konnte gezeigt werden, dass unter Verwendung von Diabetes-Apps die Blutzuckereinstellung verbessert und das Risiko (schwerer) Unterzuckerungen verringert werden konnte.

Qualitätsmängel bei Diabetes-Apps sind nicht selten
Bei vielen Diabetes-Apps bestehen berechtigte Zweifel an der Zuverlässigkeit und der Qualität der hinterlegten Software.
Noch im Jahr 2015 berichtete eine Studie über grosse Qualitätsmängel bei Apps mit sogenannten Boluskalkulatoren. Als Boluskalkulator wird eine App bezeichnet, die anhand von Zuckermesswerten und der Eingabe der geschätzten Menge an Nahrungszucker (Kohlenhydrate) eine Insulindosis für die nächste Mahlzeit empfiehlt. Es wurden damals 46 Boluskalkulatoren bewertet. Dabei zeigte sich, dass 67 % aller Boluskalkulatoren mitunter falsche Insulindosen berechneten, 59 % eine Insulindosis empfohlen hatten, obwohl nicht alle notwendigen Werte eingegeben wurden (beispielsweise die nötige Insulinmenge pro 10 Gramm Nahrungszucker) und dass 14 % aller Boluskalkulatoren ihrer eigenen Berechnungsformel widersprachen.
Dies hatte 2015 dazu geführt, dass grosse Gesundheitsorganisationen begannen, Diabetes-Apps als «Medizinprodukte im weiteren Sinne» zu betrachten und entsprechende regulatorische Rahmenbedingungen für die Entwicklung bekanntgaben. Eine neuere Untersuchung hat 20 verschiedene Diabetes-Apps nach solchen Vorgaben hin untersucht.
Zwar zeigte sich unter diesen Diabetes-Apps eine erwartungsgemäss höhere Qualität, allerdings gab es nach wie vor einige Kritikpunkte: So stellte sich heraus, dass es für die Nutzer gleichermassen schwierig ist, in der grossen Menge an angebotenen Diabetes-Apps diejenigen hoher Qualität ausfindig zu machen. Zudem war es oft unklar, wer die Diabetes-App hergestellt hatte, wie genau die Berechnungen z. B. der Insulindosis vonstatten ging und wie mit Datenschutz umgegangen wurde. Zudem wurden für die Berechnung der notwendigen Insulindosis pro Mahlzeit ausschliesslich Kohlenhydrate herangezogen. Dabei gilt es als erwiesen, dass auch der Gehalt an Fett und Eiweiss den Blutzucker nach dem Essen mitbestimmt.
Manche Bolusrechner mussten von Gesundheitsexperten erklärt werden, funktionierten nur mit Blutzuckermessgeräten der Herstellerfirma, zeigten Einschränkungen bei der Auswahl des verwendeten Insulins oder konzentrierten sich nur auf knapp vor der Mahlzeit liegende Blutzuckerwerte. Bei anderen wiederum mussten Blutzuckerwerte per Hand eingegeben werden, was wiederum das Risiko von Tippfehlern und damit falschen Insulin­dosen erhöht.
Dass sich gerade die Suche nach qualitativ hohen Diabetes-Apps schwierig gestalten kann, zeigt eine Studie, die im September 2018 veröffentlich wurde: Forscher/-innen haben im Internet die Suchanfrage «beste Diabetes-Apps 2017» eingegeben. Insgesamt wurden 26 Apps in den ersten vier Suchergebnissen vorgeschlagen. Bei einem Gross­teil der Empfehlungen war unklar, nach welchen Kriterien Apps bewertet wurden, andere gaben überhaupt keine Erklärung ihrer Auswahl ab. Am häufigsten wurden Ernährungstagebücher und Fitness-Planer empfohlen, zwei Drittel aller Apps gaben zudem Hilfestellungen zur Blutzuckerwerte-Speicherung ab. Die Hälfte bot Unterstützung zu Medikamentenfragen an. Es scheint also, dass unter der sehr naheliegenden Suche nach den «besten» Diabetes-Apps scheinbar wahllose Empfehlungen präsentiert werden.
Im Jahr 2013 wurden in der Europäischen Union Standardempfehlung zum Thema Datenschutz und Privatsphäre bei Gesundheits-Apps, wozu auch Dia­betes-Apps gehören, definiert. 2016 wurde letztlich der «Code of Conduct on Privacy for mHealth Apps» finalisiert und 2018 in die Datenschutzverfassung der Europäischen Union integriert. Dieser «Verhaltenskodex» definiert Mindestanforderungen, um Gesundheitsdaten und die Privatsphäre von Nutzer/-innen zu schützen
App-Hersteller/-innen können sich nun gemäss­ den Statuten des Code of Conduct zertifizieren lassen, um ein Qualitätssiegel zu erhalten. Auch die Amerikanische FDA hat eine Sammlung von regulatorischen Standards veröffentlicht, welche eine Diabetes-App als Medizinprodukt definieren und damit strengere Regeln für deren Herstellung und Veröffentlichung verlangen.

«DiaDigital»-App Siegel
Pruefsiegel DiaDigitalUm die Qualität eines Diabetes-Apps standardisieren zu können, wurde im August 2017 das «DiaDigital»-App Siegel veröffentlicht. Dieses wurde von der Arbeitsgemeinschaft Diabetes & Technologie (AGDT) in Zusammenarbeit mit der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), deutschen Diabetesverbänden und dem Bochumer Zentrum für Telematik und Telemedizin (ZTG) entworfen. DiaDigital beurteilt den Nutzen von Diabetes-Apps für Behandler/-innen, Nutzer/-innen und Hersteller/-innen in einem mehrstufigen Testverfahren, welches eine Selbstauskunft der Hersteller/-innen, eine technische Prüfung und Berichterstattung durch das AGDT, eine Testphase durch Nutzer/-innen und ein finales Fazit ­beinhaltet.
Bislang wurden sieben Diabetes-Apps mit dem Dia­digital-Siegel ausgezeichnet (Liste Apps April 2019):

Tabelle mit den beschriebenen Apps

Der Erwerb des Diadigital-Siegels ist freiwillig. Aktuell ist der Funktionsumfang von Apps mit dem Siegel noch auf Tagebücher und die Einschätzung der Nährstoffe von Lebensmitteln beschränkt. Allerdings ist der Ansatz vielversprechend und so könnte vielleicht bald der erste Boluskalkulator im deutschsprachigen Raum das DiaDigital-Siegel erhalten.

Zusammenfassung
Die Verwendung von Diabetes-Apps verspricht Unterstützung in vielen Bereichen der Diabetes-Therapie, bessere Selbstkontrolle und ein höheres Mass an Vernetzung mit Betroffenen und Beratungsstellen. Studien ergeben, dass der korrekte Einsatz qualitativ hochwertiger Diabetes-Apps auch die Blutzucker­einstellung langfristig verbessern kann. Probleme wie fehlende Standardisierung, unklare Qualitätssicherung und offene Fragen zum Thema Datenschutz werden momentan auf vielen Ebenen aufgearbeitet. Wann genau klare und einheitliche Richtlinien zum Thema Diabetes-Apps zur Verfügung stehen, ist unklar. Zum jetzigen Zeitpunkt sollten nur jene Diabetes-Apps verwendet werden, welche in Absprache mit den behandelnden Beratungsstellen ausgewählt wurden und für deren Qualitätssicherung ein Zertifikat oder klinische Studien verfügbar sind.

AutorIn: Dr. med. Andreas Melmer, PhD, Universitätsklinik für Diabetologie, Endokrinologie, Inselspital Bern